Die dritte Jungfrau
da?«
»Ich höre nur, welch mitleidloses Bild Ihr malt, und frage mich: woher solch feindselige Gewalt.«
»Warum sagst du es so?«
»Eine Angewohnheit«, sagte Veyrenc und lächelte ebenfalls.
»Was ist mit dir passiert? Mit deinen Haaren?«
»Ein Autounfall, mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe.«
»Ah«, sagte Retancourt. »Auch du lügst.«
Die Tür des Cafés ging wieder auf, und Estalère war auf seinen dünnen Beinen mit zwei straffen Schritten an ihrem Tisch. Er schob die leeren Gläser beiseite, kramte in seiner Tasche und legte drei graue Kieselsteine in die Mitte des Tabletts. Retancourt betrachtete sie regungslos.
»Er hatte ›weiß‹ gesagt, er hatte gesagt ›einen‹«, sagte sie.
»Es sind drei, und sie sind grau.«
Retancourt nahm die Kieselsteine und ließ sie in ihrer Hand herumkullern.
»Gib sie mir zurück, Violette. Du wärst imstande, sie ihm nicht zu geben.«
Retancourt hob heftig den Kopf und verschloß die Kieselsteine in ihrer Faust.
»Geh nicht zu weit, Estalère.«
»Wieso?«
»Wenn es mich nicht gäbe, gäbe es auch Adamsberg nicht. Immerhin war ich es, die ihn aus den Fängen der kanadischen Bullen befreit hat. Und du weißt nicht und wirst nie erfahren, was ich getan habe, um ihn da rauszuholen. Also, Brigadier, erst wenn deine Hingabe für ›Ihn‹ dieses Ausmaß erreicht hat, wirst du ein Recht darauf haben, mich anzuschnauzen. Aber vorher nicht.«
Retancourt legte die Kiesel mit allzu entschiedener Geste in Estalères ausgestreckte Hand. Veyrenc sah, wie die Lippen des jungen Mannes zitterten, und gab Retancourt ein Zeichen der Beschwichtigung.
»Wir brechen hier ab«, sagte sie und berührte die Schulter des Brigadiers.
»Verzeihung«, flüsterte Estalère. »Ich wollte nur diese Kiesel.«
»Bist du sicher, daß es die richtigen sind?«
»Ja.«
»Seit dreizehn Tagen fegt Emilio hier jeden Abend aus, seit dreizehn Tagen werden die Mülleimer jeden Morgen weggeschafft.«
»Es war an dem besagten Abend schon sehr spät. Emilio wollte nur schnell die Kieselsteine beseitigen und hat sie aus der Tür auf die Straße gekehrt. Ich habe da gesucht, wo sie hätten landen müssen, und zwar an der Mauer, vor der Stufe dort, wo nie einer langgeht.«
»Wir fahren zurück«, sagte Retancourt und zog sich rasch ihre Jacke über. »Wir haben nur noch anderthalb Tage, bis die Leute vom Drogendezernat sie uns wegnehmen.«
13
In dem kleinen Raum, in dem der Getränkeautomat stand, entdeckte Adamsberg zwei große Schaumstoffblöcke mit einer alten Decke darüber, die eine behelfsmäßige Bank am Fußboden bildeten und das Zimmer in so etwas wie einen Unterschlupf für Obdachlose verwandelten. Mit Sicherheit eine Initiative von Mercadet, dem Superschläfer der Truppe, dessen Schlafbedürfnis sein berufliches Pflichtbewußtsein quälte.
Adamsberg holte sich einen Kaffee aus dem wohltätigen Automaten und beschloß, die Bank auszuprobieren. Er setzte sich, schob sich ein Kissen unter den Rücken und streckte die Beine aus.
Darauf ließ sich schlafen, kein Zweifel. Der wärmende Schaumstoff hüllte den Körper auf heimtückische Weise ein, fast gab er einem das Gefühl, man läge mit jemandem zusammen. Eventuell ließ sich darauf auch nachdenken, aber Adamsberg konnte nur beim Umherschlendern nachdenken. Falls man das nachdenken nennen konnte. Es war schon eine Weile her, daß er zugegeben hatte, daß Denken bei ihm nichts gemein hatte mit der für diese Tätigkeit sonst üblichen Definition. Entwickeln und Verknüpfen von Vorstellungen und Urteilen. Nicht, daß er es nicht versucht hätte, er war auf einem ordentlichen Stuhl sitzengeblieben, hatte die Ellbogen auf einen sauberen Tisch gestützt, hatte sich Blatt und Stift geschnappt und die Stirn in die Hände gelegt, alles Versuche, durch die der Stromkreis seiner Logik jedoch nur abgeklemmt worden war. Sein unstrukturierter Geist erinnerte ihn an eine stumme Karte, ein zähes Magma, das nie zuließ, daß sich etwas absonderte, was einer IDEE gleichkam. Alles schien stets mit allem verbunden werden zu können, durch kleine Abkürzungen, auf denen Geräusche, Worte, Gerüche, Stimmfetzen, Erinnerungen, Bilder, Echotöne und Staubkörnchen durcheinanderwirbelten. Und allein damit mußte er, Adamsberg, die siebenundzwanzig Beamten seiner Brigade leiten und gemäß dem oft verwendeten Ausdruck des Divisionnaire »RESULTATE erzielen«. Eigentlich hätte er sich Gedanken darum machen müssen. Doch an diesem Tag spukten dem
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