Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
Danglard halblaut hinzufügte: »Beschimpfe niemals eine Frau, die sündig fällt, wer weiß, welch Last die arme Seele quält.« Adamsberg stimmte ihm zu, ohne zu wissen, wen Danglard mit diesen düsteren Gedichtzeilen am hellichten zu Hilfe rief.
     
    »Natürlich erinnere ich mich«, sagte Danglard, wobei seine Schultern in einem Schauer erbebten. »Aber sie ist weit weg, in einer Freiburger Haftanstalt. Von dort aus wird sie wohl kaum ihren Schatten auf Sie werfen.«
    Adamsberg war aufgestanden. Beide Hände gegen die Wand gestützt, sah er in den Regen hinaus.
    »Außer daß sie vor zehn Monaten und fünf Tagen einen Wärter niedergestochen hat, Danglard. Und die Mauern ihres Gefängnisses hinter sich gelassen hat.«
    »Verdammt«, sagte Danglard und zerdrückte seinen Becher. »Warum haben wir davon nichts gewußt?«
    »Das Land Baden-Württemberg hat es versäumt, uns zu benachrichtigen. Verwaltungsblockade. Ich habe es erst erfahren, als ich aus den Bergen zurück war.«
    »Hat man sie ausfindig gemacht?«
    Adamsberg machte eine vage Handbewegung in Richtung Straße.
    »Nein, Capitaine. Sie streift irgendwo da draußen herum.«

14
    Estalère streckte seine geöffnete Hand aus und zeigte die grauen Kieselsteine aus Clignancourt wie drei Diamanten vor.
    »Was ist das, Brigadier?« fragte Danglard, wobei er kaum den Blick von seinem Bildschirm hob.
    »Die sind für ihn, Commandant. Die sollte ich ihm doch holen.«
    Ihm. Er. Adamsberg.
    Danglard schaute Estalère verständnislos an und drückte kurz auf seine Sprechanlage. Es war schon dunkel, und die Kinder warteten mit dem Abendbrot auf ihn. »Kommissar? Estalère hat irgendein Zeugs für Sie. Er kommt«, fügte er, zu dem jungen Mann gewandt, hinzu.
    Estalère rührte sich nicht, die Hand noch immer geöffnet.
    »Entspann dich, Estalère. Bis er kommt. Er geht langsam.«
    Als Adamsberg fünf Minuten später ins Zimmer trat, hatte der junge Mann seine Haltung kaum verändert. Er wartete, die Hoffnung hatte ihn zur Statue werden lassen. Er rief sich den Satz ins Gedächtnis zurück, den der Kommissar vorhin beim Kolloquium gesagt hatte. »Nehmen Sie Estalère mit, der hat gute Augen.«
    Adamsberg begutachtete die Trophäe, die der junge Mann ihm da hinhielt.
    »Die haben also doch auf uns gewartet, was?« sagte er lächelnd.
    »Draußen vor der Tür, links von der kleinen Stufe.«
    »Ich wußte, du würdest sie mir bringen.«
    Estalère richtete sich auf, ebenso glücklich wie ein Vogeljunges, das von seinem ersten Flug mit einem Regenwurm zurückkehrt.
    »Auf nach Montrouge«, sagte Adamsberg. »Uns bleibt nur noch ein Tag, wir werden also die Nacht nehmen. Gehen Sie zu viert, wenn möglich zu sechst. Justin, Mercadet und Gardon begleiten dich. Sie haben ohnehin Wachdienst.«
    »Mercadet hat Dienst, aber er schläft«, erinnerte Danglard.
    »Dann geh mit Voisenet. Und Retancourt, falls sie Überstunden mitmacht. Wenn sie will, kann Retancourt ohne Schlaf leben, zehn Nächte hintereinander Auto fahren, Afrika zu Fuß durchqueren und das Flugzeug in Vancouver erwischen. Energieumwandlung, es ist Zauberei.«
    »Ich weiß, Kommissar.«
    »Durchforsten Sie alle Parks, Grünanlagen, Wege, jede Brache. Vergessen Sie die Baustellen nicht. Nehmt von allen Orten Proben.«
    Estalère rannte fast los, in der Faust seinen Schatz.
    »Soll ich auch mitgehen?« fragte Danglard und schaltete seinen Computer aus.
    »Nein, gehen Sie Ihren Kindern Abendbrot machen, und ich ebenfalls. Camille spielt in Saint-Eustache.«
    »Ich kann meine Nachbarin bitten, das Essen zu machen. Wir haben nur noch vierundzwanzig Stunden.«
    »Großauge wird schon zu Rande kommen, er ist nicht allein.«
    »Warum, glauben Sie, reißt er die Augen so weit auf?«
    »Wahrscheinlich hat er als Kind irgendwas gesehen. Wir alle haben irgendwas gesehen als Kind. Manchen sind davon die Augen allzu weit offengeblieben, andere haben davon einen allzu dicken Körper zurückbehalten oder einen allzu wirren Kopf oder …«
    Adamsberg stockte und verbannte die roten Strähnen des Neuen aus seinen Gedanken.
    »Ich glaube, Estalère hat die Kiesel ganz allein gefunden. Ich glaube, Retancourt wollte nichts davon wissen und hat mit dem Neuen derweil was getrunken. Vielleicht ein Bier.«
    »Vielleicht.«
    »Hin und wieder regt Retancourt sich noch immer über mich auf.«
    »Sie regen jeden auf, Kommissar. Warum nicht auch sie?«
    »Jeden, außer ihr. Genau das würde ich mir wünschen. Bis morgen,

Weitere Kostenlose Bücher