Die dritte Jungfrau
La Paille auf einem gottverlassenen Friedhof herumzustehen.«
»Das stimmt«, sagte Adamsberg, den dies sogleich zu seiner Idee zurückbrachte, mit Ariane zu schlafen, und zwar auf der Stelle.
»Nun, ich nehme genau wie du an, daß sie eine Verbindung zur Ärzteschaft hat. Die Wahl des Skalpells natürlich, dann, wie der Schnitt gesetzt wurde, der die Halsschlagader durchtrennt hat, und die Verwendung der Spritze, die genau in die Vene gesetzt wurde. Fast eine dreifache Unterschrift.«
Der Kellner brachte die Tassen, und Adamsberg sah zu, wie die Gerichtsmedizinerin ihre Mischung anrührte.
»Du hast nicht alles gesagt.«
»Das ist richtig. Ich habe ein kleines Geheimnis für dich.«
Ariane dachte nach, ihre Finger spielten auf der Tischdecke.
»Ich äußere mich nicht gern, wenn ich mir nicht ganz sicher bin.«
»Und ich mag genau das.«
»Möglicherweise habe ich das Indiz für ihren Wahnsinn und vielleicht sogar für das Wesen ihrer Psychose. Sie ist auf jeden Fall wahnsinnig genug, um ihre Welten auseinanderzuhalten.«
»Hinterläßt so was Spuren?«
»Für die letzten Schnittwunden, die sie La Paille beigebracht hat, hat sie ihren Fuß auf seinen Oberkörper gestellt. Du muß wissen, daß sie die Unterseite ihrer Schuhe wichst.«
Adamsberg betrachtete Ariane mit ausdruckslosem Blick.
»Sie wichst ihre Schuhsohlen«, beharrte die Ärztin lauter, wie um den Kommissar aufzuwecken. »Es waren Spuren von Schuhcreme auf La Pailles T-Shirt.«
»Ich hab’s gehört, Ariane. Ich suche nach dem Zusammenhang mit ihren Welten.«
»Ich habe diesen Fall zweimal erlebt, in Bristol und in Bern. Männer, die die Unterseite ihrer Schuhsohlen mehrmals am Tag wichsten, um die Verbindung zwischen sich und dem Schmutz des Bodens, der Welt zu unterbrechen. Es war ihre Art, sich zurückzuziehen, sich davor zu schützen.«
»Sich von ihm zu trennen, wie Dissoziierte?«
»Ich denke nicht immer an die Dissoziierten. Aber du hast gar nicht so unrecht, der Mann in Bristol war nicht weit davon entfernt. Diese Isolierung zwischen sich und dem Boden, diese Undurchlässigkeit zwischen seinem Körper und der Erde erinnern an die inneren Wände bei Dissoziierten. Besonders wenn es sich um den Boden handelt, auf dem ein Verbrechen begangen wird, oder auch um den Boden der Toten auf einem Friedhof. Was nicht heißen soll, daß unsere Mörderin ihre Schuhsohlen täglich wichst.«
»Und auch nur ihre Omega-Hälfte, falls es eine Dissoziierte sein sollte.«
»Nein, du irrst dich. Alpha wäre es, die sich wünschte, vom Boden der Verbrechen getrennt zu sein, während Omega sie begehen würde.«
»Durch Schuhcreme«, sagte Adamsberg und verzog zweifelnd das Gesicht.
»Die Schuhcreme wird als imprägnierender Stoff empfunden, als Schutzschicht.«
»Welche Farbe hat sie?«
»Blau. Was mich schon wieder zu einer Frau tendieren läßt. Schuhe aus blauem Leder trägt man im allgemeinen in Verbindung mit Kostümen in demselben Farbton, also für sehr konventionelle, ja sogar strenge Kleidung, die man, noch genauer, bei bestimmten Berufsgruppen findet: Luftfahrt, Empfang, Verwaltung, in religiösen Lehrberufen, Krankenhäusern, die Liste ließe sich fortsetzen.«
Unter der Masse von Informationen, die die Gerichtsmedizinerin nach und nach auf dem Tisch anhäufte, verfinsterte sich Adamsbergs Gesicht. Ariane hatte den Eindruck, es veränderte sich vor ihren Augen, die Nase wurde noch gebogener, die Wangen hohler, die Züge traten stärker hervor. Sie hatte nichts bemerkt, nichts begriffen damals, vor dreiundzwanzig Jahren. Hatte den Mann, der an ihr vorüberging, nicht bemerkt, hatte nicht bemerkt, daß er schön war und daß sie ihn in ihren Armen hätte festhalten können im Hafen von Le Havre. Aber der Hafen war weit weg, und es war zu spät.
»Gefällt dir irgendwas nicht?« fragte sie, indem sie von ihrem beruflichen Ton abließ. »Willst du einen Nachtisch?«
»Warum nicht?« fragte er. »Such du was für mich aus.«
Adamsberg verschlang ein Stück Kuchen, ohne genau zu wissen, ob es sich um Apfel oder Pflaume handelte, ohne genau zu wissen, ob er an diesem Abend mit Ariane schlafen würde und wo er seine Autoschlüssel hingetan hatte, nachdem er aus der Normandie zurückgekommen war.
»Ich glaube nicht, daß sie in der Küche hängen«, sagte er schließlich und spuckte einen Kern aus.
Pflaume, schloß er daraus.
»Ist es das, was dich beschäftigt?«
»Nein, Ariane. Es ist der Schatten. Erinnerst du dich an die alte
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