Die dritte Jungfrau
Frau gegenüber hatten diese Burschen keinen Grund zur Sorge. Und ich kann dir versichern, daß sie standen, als man sie umbrachte, und zwar sehr ruhig. Zweites Argument, diesmal mentaler Natur und interessanter: In beiden Fällen hat eine einzige Verletzung, und zwar die erste, ausgereicht, die Männer zu Boden gehen zu lassen und sie mit Sicherheit zu töten. Ich nenne so was eine primäre Schnittwunde. Hier«, erklärte Ariane und zeigte auf einen Punkt auf der Tischdecke. »Die Waffe ist ein langes, spitzes Skalpell, und der Angriff war tödlich.«
»Ein Skalpell? Bist du sicher?«
Adamsberg füllte stirnrunzelnd ihre Gläser und riß sich von seinen unbesonnenen erotischen Fragestellungen los.
»Ganz sicher. Und wenn man ein Skalpell anstelle eines Küchen- oder Rasiermessers wählt, dann deshalb, weil man damit umzugehen weiß und das Ergebnis kennt. Trotzdem wurde auf Diala noch zweimal zusätzlich eingestochen und auf La Paille dreimal. Diese Schnittwunden nenne ich die sekundären, sie werden beigebracht, wenn das Opfer bereits am Boden liegt, sie verlaufen nicht horizontal.«
»Ich kann dir folgen«, versicherte Adamsberg, bevor Ariane ihm die Frage stellen konnte.
Die Gerichtsmedizinerin hob die Hand für eine kurze Unterbrechung, trank einen Schluck Wasser, dann Wein, dann wieder Wasser und nahm ihren Füller.
»Diese sekundären Schnittwunden deuten auf erhebliche Vorsichtsmaßnahmen hin, auf ein Bestreben, das Werk auch wirklich zu Ende zu bringen, es zu vollenden, und zwar möglichst einwandfrei. Dieses Übermaß an Kontrolle, diese übertriebene Gewissenhaftigkeit sind die zähen Überbleibsel schulischer Disziplin, sie können bis zu einem neurotischen Perfektionismus führen.«
»Ja«, sagte Adamsberg, und er dachte, daß Ariane auch sehr gut sein Buch über die in der Pyrenäenarchitektur zu Kompensationszwecken eingesetzten Steine hätte verfassen können.
»Diese Tendenz zur Vortrefflichkeit ist immer nur eine Verteidigung gegen die Bedrohung durch die äußere Welt. Und sie ist ihrem Wesen nach weiblich.«
»Die Bedrohung?«
»Die Neigung zur Perfektion, das Überprüfen der Dinge. Der Anteil der Männer, die diese Symptome aufweisen, ist verschwindend gering. Zum Beispiel habe ich heute abend kontrolliert, ob meine Wagentür auch wirklich abgeschlossen ist. Du nicht. Und ob die Schlüssel auch wirklich in meiner Tasche sind. Weißt du, wo deine sind?«
»An ihrem Platz, sie hängen an einem Nagel in der Küche, nehme ich an.«
»Nimmst du an.«
»Ja.«
»Aber sicher bist du dir nicht.«
»Scheiße, Ariane, ich kann’s nicht beschwören.«
»Daran, und ich brauche dich dafür nicht einmal anzusehen, erkenne ich, daß du ein Mann bist und ich eine Frau, Menschen der westlichen Welt, mit einer Fehlerquote von zwölf Prozent.«
»Trotzdem wäre es einfacher, hinzusehen.«
»Aber entsinne dich bitte, daß ich keine Gelegenheit hatte, den Mörder von Diala und La Paille zu sehen, der eine Frau ist, 1,62 Meter groß, mit sechsundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit, gemessen an den Ergebnissen, die sich aus unseren drei sich überschneidenden Parametern ergeben, und nach Abzug einer durchschnittlichen Absatzhöhe von drei Zentimetern.«
Ariane legte ihren Füller hin und nahm einen Schluck Wein zwischen zwei Schlucken Wasser.
»Bleiben noch die Einstiche im Arm«, sagte Adamsberg und griff sich den luxuriösen Füller, den er auf- und wieder zuzuschrauben begann.
»Die Einstiche sind nur Köder. Man könnte sich vorstellen, daß die Mörderin die Ermittlungen in Richtung Drogenfall lenken wollte.«
»Nicht sehr schlau, noch weniger bei einem einzigen Einstich.«
»Aber Mortier hat dran geglaubt.«
»Und warum spritzt sie in dem Fall nicht gleich eine ordentliche Dosis Heroin, wenn sie schon dabei ist?«
»Weil sie vielleicht keins hatte? Gib mir den Füller wieder, du wirst ihn noch kaputtmachen, und ich hänge daran.«
»Ein Andenken an deinen Ex-Gatten.«
»Genau.«
Adamsberg ließ den Füller zu Ariane hinüberrollen, er blieb drei Zentimeter vor der Tischkante liegen. Die Ärztin steckte ihn in ihre Tasche zu ihren Schlüsseln.
»Soll ich Kaffee bestellen?«
»Ja. Und verlange auch etwas Pfefferminzlikör und Milch.«
»Gewiß«, sagte Adamsberg und winkte dem Kellner.
»Der Rest ist eine Kleinigkeit«, lenkte Ariane über. »Ich glaube, die Mörderin ist ziemlich alt. Eine junge Frau wäre das Risiko nicht eingegangen, nachts allein mit zwei Typen wie Diala und
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