Die dritte Jungfrau
Krankenschwester mit den dreiunddreißig Opfern?«
»Die Dissoziierte?«
»Ja. Hast du erfahren, was aus ihr geworden ist?«
»Zwangsläufig, ich habe sie mehrmals besucht. Sie sitzt in einem Freiburger Gefängnis, brav wie ein Lamm, zurückgekehrt in den Alpha-Modus.«
»Omega, Ariane. Sie hat einen Wärter niedergestochen.«
»Großer Gott. Wann?«
»Vor etwa zehn Monaten. Persönlichkeitsspaltung und Flucht.«
Die Gerichtsmedizinerin füllte ihr Glas zur Hälfte mit Wein, den sie hinuntergoß, ohne zwischendurch Wasser zu trinken.
»Antworte mir«, sagte sie. »Hast wirklich du sie identifiziert? Nur du?«
»Ja.«
»Ohne dich wäre sie noch frei?«
»Ja.«
»Und sie weiß das? Hat sie es begriffen?«
»Ich glaube.«
»Woran hast du sie erkannt?«
»An ihrem Geruch. Sie benutzte Relaxol, ein Elixier aus Kampfer und Orangenblüte, das sie sich auf den Nacken und die Schläfen tupfte.«
»Dann nimm dich in acht, Jean-Baptiste. Denn für sie bist du derjenige, der die Wand eingerissen hat, von der Alpha um keinen Preis etwas wissen durfte. Du bist derjenige, der Bescheid weiß, du mußt verschwinden.«
»Warum?« fragte Adamsberg und trank einen Schluck aus Arianes Glas.
»Damit sie woanders, in einem anderen Leben wieder eine ruhige Alpha werden kann. Du bedrohst ihr gesamtes Gebäude. Möglicherweise sucht sie dich.«
»Der Schatten.«
»Ich glaube, der Schatten geht von dir aus, und zwar so lange, bis sich irgendwas vollständig in Luft aufgelöst haben wird.«
Adamsberg begegnete dem wissenden Blick der Ärztin und sah wieder das Bild eines Pfades in Quebec in der Dunkelheit vor sich. Er befeuchtete seinen Finger und ließ ihn über den Rand seines Glases kreisen.
»Der Friedhofswärter in Montrouge hat ihn auch gesehen. Der Schatten ist über den Friedhof gegangen, ein paar Tage bevor die Grabplatte kaputtgeschlagen wurde. Er lief nicht normal.«
»Warum bringst du Gläser zum Kreischen?«
»Um nicht selbst zu schreien.«
»Schrei doch, das ist mir lieber. Denkst du an die Krankenschwester? Bei Diala und La Paille?«
»Du beschreibst mir eine ältere Mörderin mit einer Spritze, jemanden, der sich in Medizin auskennt und möglicherweise dissoziativ veranlagt ist. Das ist reichlich viel.«
»Oder so gut wie nichts. Erinnerst du dich daran, wie groß die Krankenschwester war?«
»Nicht genau.«
»An ihre Schuhe?«
»Auch nicht.«
»Überprüf das, bevor du Gläser zum Kreischen bringst. Nur weil sie draußen ist, ist sie nicht gleich überall. Vergiß nicht ihre Eigenart: Sie bringt alte Leute in ihren Betten um. Sie öffnet nicht Gräber, sie schneidet nicht Kraftprotzen an der Porte de la Chapelle die Kehle durch. All das ähnelt ihr überhaupt nicht.«
Adamsberg stimmte ihr zu, die handfeste Vernunft der Gerichtsmedizinerin holte ihn aus seinen Nebeln zurück. Der Schatten konnte nicht überall sein, in Freiburg, an der Porte de la Chapelle, in Montrouge, in seinem Haus. Er war vor allem hinter seiner Stirn.
»Du hast recht«, sagte er.
»Du kannst erst mal nichts anderes tun, als ganz stur mit deinem Recherchekram fortzufahren, Schritt für Schritt. Die Schuhcreme, die Schuhe, die Typenbeschreibung, die ich dir geliefert habe, Zeugen, die sie mit Diala oder La Paille gesehen haben können.«
»Im Grunde rätst du mir, logisch vorzugehen.«
»Ja. Kennst du was anderes?«
»Ich kenne nur anderes.«
Ariane schlug Adamsberg vor, ihn zu Hause abzusetzen, und der Kommissar nahm das Angebot an. Die Fahrt im Auto würde ihm die Möglichkeit bieten, die erotische Frage, die noch immer offen war, zu lösen. Als sie ankamen, schlief er, hatte alles vergessen, was den Schatten, die Gerichtsmedizinerin und Élisabeths Grab betraf. Ariane stand schon auf dem Gehweg, hielt die Tür auf und rüttelte ihn sanft an der Schulter. Sie hatte den Motor laufen lassen, ein Zeichen dafür, daß sie rein gar nichts versuchen wollte und auch nichts zu lösen hatte. Als er in sein Haus trat, nahm er den Weg durch die Küche, um nachzusehen, ob seine Schlüssel auch wirklich an der Wand hingen. Sie hingen nicht.
Mann, schlußfolgerte er. Mit einer Fehlerquote von zwölf Prozent, hätte Ariane präzisiert.
20
Veyrenc hatte die Mannschaft in Montrouge um fünfzehn Uhr verlassen und war sofort in sein Zimmer zurückgekehrt, wo er wie ein Stein geschlafen hatte. So daß er um einundzwanzig Uhr wieder auf den Beinen war, hellwach und von scheußlichen nächtlichen Gedanken verfolgt, vor denen er lieber
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