Die dritte Jungfrau
geflohen wäre. Fliehen, wohin denn und wie? Veyrenc wußte, daß es keinen Ausweg gab, solange die Tragödie der zwei Täler kein Ende genommen hätte. Dann erst würde sich der Raum öffnen.
Ganz ohne Hast gelang ich sicherer ans Ziel,
Schon mancher Mann im Kampf aus Übereifer
fiel.
Wie wahr, antwortete Veyrenc sich selbst, schon entspannter. Er hatte ein möbliertes Einzimmer-Appartement für ein halbes Jahr gemietet, es eilte nicht. Er schaltete den kleinen Fernseher an und machte es sich bequem. Ein Tierfilm. Hervorragend, sehr gut. Veyrenc sah wieder, wie Adamsbergs Finger sich um den Türknauf krampften. Sie kamen aus dem Gave-Tal. Veyrenc lächelte.
Nach diesem Satz, Seigneur, wurdet Ihr plötzlich
bleich,
der große Weltenfürst, der durch sein ries’ges Reich
mit stolzem Schritte lief. Doch hattet Ihr kein Herz,
da war kein Blick, kein Wort, für des Soldaten
Schmerz.
Veyrenc zündete sich eine Zigarette an, stellte den Aschenbecher auf die Sessellehne. Eine Herde Nashörner rannte mit Getöse über den Bildschirm.
Doch viel zu spät ist’s jetzt, da Euer Thron schon bebt,
daß Ihr noch Mitleid zeigt, das Kind von damals lebt
in Euch noch fort, nur es umsonst nach Unschuld strebt.
Veyrenc stand gereizt auf. Welcher Thron denn eigentlich? Was für ein Fürst und welcher Soldat? Was für ein Mitleid denn, welcher Zorn und auf wen? Und wer bebte?
Er lief eine Stunde lang durchs Zimmer, bevor er sich entschloß.
Keinerlei Vorbereitung, kein einziger Satz, keine Begründung. So daß er, als Camille die Tür öffnete, nichts herausbrachte. Später glaubte er sich zu erinnern, daß sie über das Ende seiner Überwachung informiert zu sein schien, daß sie bei seinem Anblick gar nicht überrascht wirkte, vielleicht sogar erleichtert. Und als wüßte sie um das Unvermeidliche dieses Augenblicks, hatte sie ihn mit ebenso großer Verlegenheit wie Natürlichkeit empfangen. An das Danach erinnerte er sich besser. Er war eingetreten, vor ihr stehengeblieben. Er hatte ihr Gesicht in seine Hände genommen, hatte – und dies war wahrscheinlich sein erster Satz – gesagt, daß er sofort wieder gehen könne. Während sie doch beide wußten, daß er durchaus nicht wieder gehen konnte und dieser Schritt unausweichlich war. Daß er seit ihrer ersten Begegnung im Treppenflur beschlossene Sache war. Daß es nicht die geringste Chance gab, ihn zu vermeiden. Wer hatte wen zuerst geküßt? Wahrscheinlich er, denn Camille war ebenso abenteuerlustig wie ängstlich. Er konnte diesen allerersten Moment einfach nicht genau rekonstruieren, nur daß er ans Ziel gelangen wollte, spürte er ganz klar. Er war es auch gewesen, der die zehn Schritte aufs Bett zu gemacht hatte, während er sie an der Hand mit sich zog. Um vier Uhr früh war er von ihr fortgegangen, diesmal nach einer stilleren Umarmung, keiner von beiden wollte am Morgen diese vorhersehbare, schicksalhafte und beinahe stumme Begegnung kommentieren.
Als er wieder zu Hause war, dröhnte der Fernseher noch immer. Er schaltete ihn aus, und mit dem Grau der Mattscheibe erlosch seine Klage wie zugleich auch sein Groll.
Was denn, Soldat,
muß deinem Feuer nur ein Weib sich überlassen,
auf daß in deiner Seel’ die Qualen schon verblassen?
Und dann schlief Veyrenc ein.
Camille ließ das Licht brennen und fragte sich, ob es ein Fehler oder ob es richtig war, das Unvermeidliche zu tun. In der Liehe ist es besser, zu bedauern, was man getan hat, als zu bedauern, was man nicht getan hat. Nur die Byzantiner und ihre Sprichwörter können einem das Leben manchmal fast in Ordnung bringen.
21
Die Leute vom Drogendezernat hatten aufgeben müssen, allerdings war auch Adamsberg nicht weit davon entfernt. Wieder trat man auf der Stelle, wieder stockten die Ermittlungen, wohin er auch sah.
Eigentlich waren diese schwedischen Barhocker gar nicht so übel, weil man sich nicht wirklich hinsetzen konnte, sondern nur wie auf einem Pferd darauf hing und die Beine baumeln ließ. Adamsberg hatte sich auf einem niedergelassen, er fühlte sich ganz wohl so, während er sich den tristen Frühling draußen vor dem Fenster besah, der in seinem verhangenen Himmel genauso steckenblieb wie er in seinen Ermittlungen. Der Kommissar saß nicht gern. Wenn er sich eine Stunde nicht gerührt hatte, verspürte er die kribbelnde Notwendigkeit, aufzustehen und herumzugehen, und sei’s im Kreis. Dieser für ihn zu hohe Hocker eröffnete ihm neue
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