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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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eine Gottheit mit sechzehn Armen und zwölf Köpfen.«
    »Soso. Das hatte ich gar nicht bemerkt.«
    »Ist aber so. Sie macht ganz nach Belieben davon Gebrauch. Setzt ihre Energie um in Geschwindigkeit, Gewichtsmasse, Unsichtbarkeit, Serienanalyse, Tragfähigkeit, körperliche Verwandlung, je nach Bedarf.«
    »Schmollen ebenfalls.«
    »Wenn es ihr paßt. Ich falle ihr oft auf die Nerven.«
    »Arbeitet sie mit dem Kerl zusammen, der die gescheckten Haare hat?«
    »Weil er ein Neuer ist. Sie hat seine Ausbildung übernommen.«
    »Nicht nur. Sie mag ihn auch sehr. Er ist verführerisch.«
    »Relativ.«
    Ariane bremste scharf vor einer roten Ampel.
    »Aber da das Leben nun mal schlecht eingerichtet ist«, fuhr sie fort, »interessiert sich der klapprige Modegeck für deinen weiblichen Lieutenant.«
    »Danglard? Für Retancourt?«
    »Wenn Danglard der große gepflegte Kerl ist, der sich so weit wie möglich von uns weggesetzt hat. Verhielt sich wie ein angewiderter Gelehrter, der sich gern mit einem Gläschen Mut angetrunken hätte.«
    »Genau der«, bestätigte Adamsberg.
    »Nun, er liebt den blonden Lieutenant. Aber wenn er dauernd das Weite sucht, kommt er nie an sie heran.«
    »Die Liebe, Ariane, ist die einzige Schlacht, die man durch Rückzug gewinnt.«
    »Welcher Dummkopf hat das denn gesagt? Du etwa?«
    »Napoleon, der nicht gerade der schlechteste Stratege war.«
    »Und du, was machst du?«
    »Ich ziehe mich zurück. Und ich habe auch keine andere Wahl.«
    »Hast du Ärger?«
    »Ja.«
    »Um so besser. Ich höre mir gern die Geschichten von anderen an und vor allem ihren Ärger.«
    »Stell dich hierhin«, sagte Adamsberg und wies auf eine Parklücke. »Wir werden in dem Ding da essen. Was für Ärger meinst du?«
    »Vor langer Zeit ist mein Mann mit einer muskulösen Sanitäterin abgehauen, dreißig Jahre jünger als er«, fuhr Ariane während des Einparkens fort. »Immer bringen die uns zu Fall. Die Sanitäterinnen.«
    Energisch und mit einem kurzen Knirschen zog sie die Handbremse an, mehr konnte sie ihrer Geschichte nicht hinzufügen.
    Ariane gehörte nicht zu den Ärzten, die warten, bis sie mit dem Essen fertig sind, um über die Arbeit zu sprechen, die also den Unrat des Leichenschauhauses höflich von den Tafelfreuden trennen. Während sie aß, zeichnete sie eine vergrößerte Skizze von Dialas und La Pailles Wunden auf die Papiertischdecke, mit Winkeln und Pfeilen, um die Art der Einstiche darzustellen, damit der Kommissar die Problematik auch wirklich verstand.
    »Erinnerst du dich an ihre Größe?«
    »Einhundertzweiundsechzig Zentimeter.«
    »Eine Frau also, mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit. Noch zwei weitere Argumente sprechen dafür: Das erste ist psychologischer, das zweite mentaler Natur. Hörst du mir auch zu?« fügte sie unsicher hinzu.
    Adamsberg nickte mehrmals, während er sein Fleisch auf dem Spieß zerkleinerte und sich fragte, ob er versuchen sollte, heute abend mit Ariane zu schlafen, oder nicht. Ariane, deren Körper durch irgendein Wunder, das vielleicht ihren experimentellen Getränkemischungen zu verdanken war, der Alterskurve ihrer sechzig Jahre nicht gefolgt war. Gedanken, die ihn dreiundzwanzig Jahre zurückversetzten, in einen Augenblick, als er diese Schultern und diese Brüste auf der anderen Seite eines Tisches schon einmal begehrt hatte. Doch Ariane dachte nur an ihre Toten. Scheinbar zumindest, denn Frauen mit einer derart gesuchten Haltung wissen ihre Begierden hinter einem tadellosen Auftreten zu verbergen, so sehr, daß sie sie fast vergessen und sich beinahe über sie wundern. Camille hingegen mit ihrem nicht zu unterdrückenden Hang zur Natürlichkeit war für diese Art Täuschungsmanöver unbegabt. Es war leicht, Camille zum Zittern zu bringen, ihre Wangen sich röten zu sehen, Adamsberg rechnete jedoch nicht damit, derlei Schwankungen bei der Gerichtsmedizinerin zu erleben.
    »Du machst einen Unterschied zwischen dem Psychologischen und dem Mentalen?« fragte er.
    »›Mental‹ nenne ich eine Verdichtung des Psychologischen über einen langen Zeitraum der Geschichte hinweg, deren Auswirkungen so untergründig sind, daß sie zu Unrecht mit dem Angeborenen verwechselt werden.«
    »Gut«, sagte Adamsberg und schob seinen Teller zurück.
    »Hörst du mir zu?«
    »Ja, natürlich, Ariane.«
    »Es ist klar, daß ein 1,62 Meter großer Mann, von denen es noch dazu wenige gibt, nie versucht hätte, Kerle vom Format eines Diala oder La Paille zu überfallen. Aber einer

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