Die dritte Jungfrau
Paket zusammengewurstelt auf dem Tisch. Gab es keine schlimmeren Vorkommnisse, war dies für ihn ein Grund zur Verärgerung. Aber er konnte sich gegen diese Unordnung nicht auflehnen, denn der Kommissar kam bereits bei Tagesanbruch ins Büro – wo er seine Zeitung durchblätterte – und hatte über Danglards laxe Arbeitszeiten nie einen Vorwurf geäußert.
Die Beamten hockten in der Brasserie in ihrem angestammten Bereich, einem langen Alkoven, den zwei große Kirchenfenster erhellten, die blaue, grüne und rote Lichter auf die Gruppe am Tisch warfen, je nachdem, wo einer saß. Danglard, der diese Kirchenfenster häßlich fand und es ablehnte, ein blaues Gesicht zu haben, setzte sich immer mit dem Rücken zu ihnen.
»Wo ist Noël?« fragte Mordent.
»Er ist auf einem Lehrgang am Seine-Ufer«, erklärte der Kommissar und setzte sich.
»Und was macht er da?«
»Er studiert die Möwen.«
»Es geschehen noch Wunder«, sagte leise Voisenet, ein langmütiger Positivist und Zoologe.
»Es geschehen noch Wunder«, bestätigte Adamsberg und legte einen Packen Fotokopien auf den Tisch. »In den nächsten Tagen werden wir logisch vorgehen. Ich habe Marschbefehle für Sie vorbereitet, mit der neuen Beschreibung des Mörders. Im Augenblick setzen wir auf eine ältere Frau, ungefähr 1,62 Meter groß, konventionelles Äußeres, die möglicherweise Schuhe aus blauem Leder trägt und sich in medizinischen Dingen auskennt. Auf dieser Grundlage fangen wir mit den Ermittlungen auf dem Flohmarkt noch einmal an, in vier Teams. Jeder nimmt einen Satz Fotos von Claire Langevin mit, der Krankenschwester mit den dreiunddreißig Opfern.«
»Dem Todesengel?« fragte Mercadet, der noch vor allen anderen seinen dritten Kaffee trank, um durchzuhalten.
»Sitzt die denn nicht im Knast?«
»Dort ist sie nicht mehr. Vor zehn Monaten ist sie über die Leiche eines Wärters gegangen und ausgeflogen. Vielleicht ist sie an der Küste des Ärmelkanals gelandet, vermutlich aber ist sie wieder in Frankreich. Zeigen Sie das Foto erst, wenn Sie mit den Befragungen fertig sind, beeinflussen Sie die Zeugen nicht. Es ist eine reine Möglichkeit, nicht mehr als ein Schatten.«
In diesem Augenblick kam Noël in die Brasserie und zwängte sich – unter grünem Licht – auf einen Platz zwischen zwei Beamte. Adamsberg sah auf seine Uhren. Zu dieser Zeit hätte Noël eigentlich in Richtung Möwen unterwegs sein sollen, auf der Höhe von Saint-Michel. Der Kommissar zögerte, schwieg dann aber. An seiner verschlossenen Miene und den vor Schlaflosigkeit geröteten Augen war abzulesen, daß Noël es auf irgend etwas anlegte, das entweder Befriedung oder aber Provokation hieß, und man wartete besser ab.
»Was den Schatten anbelangt, nähern wir uns ihm auf Zehenspitzen, das Gelände ist gefährlich. Wir müssen herauskriegen, ob Claire Langevin blaue Lederschuhe trug, wenn möglich gewichst, wenn möglich auf der Unterseite gewichst.«
»Auf der Unterseite?«
»Genau so ist es, Lamarre, auf den Sohlen gewichst. So wie man Kerzenwachs unter Skier reibt.«
»Wozu soll das gut sein?«
»Um vom Boden getrennt zu sein, um über ihn hinwegzugleiten, ohne ihn zu berühren.«
»Ah, das wußte ich nicht«, sagte Estalère.
»Retancourt, Sie gehen zum ehemaligen Haus der Krankenschwester. Versuchen Sie über den Immobilienmakler herauszufinden, wo ihre Sachen hingeschafft worden sind. Vielleicht wurden sie weggeworfen, oder jemand hat sie abgeholt. Recherchieren Sie auch bei den letzten Kranken, um die sie sich gekümmert hat.«
»Und die sie nicht umgebracht hat«, präzisierte Estalère.
Eine kurze Stille trat ein, wie so oft nach den naiven Zwischenbemerkungen des jungen Mannes. Adamsberg hatte allen erklärt, Estalères Fall werde sich mit der Zeit sicher bessern, man müsse nur Geduld haben. Jeder schützte also den jungen Brigadier, sogar Noël. Denn Estalère stellte für ihn keinen ernsten Konkurrenten dar.
»Gehen Sie beim Labor vorbei, Retancourt, und nehmen Sie ein Team für die Proben mit. Der Fußboden des Hauses muß sorgfältig abgesucht werden. Wenn sie die Unterseite ihrer Schuhe tatsächlich wichste, hat das auf dem Parkett oder den Fliesen möglicherweise Spuren hinterlassen.«
»Es sei denn, der Makler hat alles reinigen lassen.«
»Natürlich. Aber wir haben gesagt, wir würden logisch vorgehen.«
»Wir überprüfen also die Spuren.«
»Und vor allem schützen Sie mich, Retancourt. Das ist Ihr Auftrag.«
»Vor?«
»Vor ihr. Sie
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