Die dritte Jungfrau
sucht möglicherweise nach mir. Laut Expertenmeinung könnte sie es nötig haben, mich auszuschalten, um sich wieder auf den Weg machen zu können und die Wand zu erneuern, die ich eingerissen habe, als ich sie entdeckte.«
»Was für eine Wand?« fragte Estalère.
»Eine innere Wand«, erklärte Adamsberg, zeigte auf seine Stirn und zog dann eine Linie bis zu seinem Bauchnabel.
Estalère neigte konzentriert den Kopf.
»Ist sie eine Dissoziierte?« fragte er.
»Woher wissen Sie das?« fragte Adamsberg, immer wieder erstaunt über die unerwarteten Geistesblitze des Brigadiers.
»Ich habe das Buch von Lagarde gelesen, sie spricht von ›inneren Wänden‹. Ich erinnere mich sehr gut daran. Ich erinnere mich an alles.«
»Nun, genau das ist es. Sie ist eine Dissoziierte. Sie sollten das Werk allesamt noch einmal lesen«, fügte Adamsberg hinzu, der es selbst noch immer nicht getan hatte. »Ich erinnere mich nicht mehr an den Titel.«
» Zu beiden Seiten der Wand des Verbrechens «, sagte Danglard.
Adamsberg schaute Retancourt an, die wieder und wieder die Fotos der alten Krankenschwester betrachtete und sich dabei jedes Detail einprägte.
»Ich habe keine Zeit, mich vor ihr zu schützen«, sagte er zu ihr, »und bin auch nicht überzeugt genug, um es zu tun. Ich weiß weder, woher die Gefahr kommen wird noch in welcher Gestalt, noch wo die Gegenwehr einsetzen müßte.«
»Wie hat sie den Gefängniswärter umgebracht?«
»Sie hat ihm eine Gabel in die Augen gerammt, unter anderem. Sie würde mit den Fingernägeln töten, Retancourt. Lagarde zufolge, die sie gut kennt, ist sie hochgradig gefährlich.«
»Nehmen Sie sich Leibwachen, Kommissar. Das wäre vernünftiger.«
»Ihrem Schutz vertraue ich mehr.«
Retancourt schüttelte den Kopf und dachte gründlich über die Schwere ihres Auftrags wie über die Verantwortungslosigkeit des Kommissars nach.
»Nachts« sagte sie, »kann ich nichts für Sie tun. Ich werde nicht im Stehen vor Ihrer Tür schlafen.«
»Oh«, sagte Adamsberg und winkte gleichgültig ab, »für die Nächte mache ich mir keine Sorgen. Ich habe bereits ein blutrünstiges Gespenst im Haus.«
»Ach ja?« sagte Estalère.
»Die heilige Clarisse, sie wurde 1771 unter den Fäusten eines Gerbers zermalmt«, erläuterte Adamsberg mit einem Quentchen Stolz. »Man nennt sie die Stumme. Sie plünderte die Alten aus und schnitt ihnen anschließend die Kehle durch. In gewisser Hinsicht ist sie eine unmittelbare Rivalin unserer Krankenschwester. Falls Claire Langevin bei mir zu Hause eindringen sollte, wird sie’s mit ihr zu tun kriegen, bevor sie an mich herankommt. Zumal die heilige Clarisse eine Vorliebe für Frauen hat, und zwar für alte Frauen. Sie sehen, da fürchte ich nichts.«
»Woher haben Sie so was?«
»Von meinem neuen Nachbarn, einem uralten Spanier mit nur einer Hand. Seinen rechten Arm hat er im Bürgerkrieg verloren. Er sagt, das Gesicht der Nonne sähe aus wie die Schale einer alten Nuß.«
»Wie viele hat sie umgebracht?« fragte Mordent, den die Geschichte sehr erheiterte. »Sieben, wie im Märchen?«
»Genau.«
»Und Sie, haben Sie sie auch gesehen?« fragte Estalère, den das Gelächle seiner Kollegen ganz aus der Fassung brachte.
»Es ist eine Sage«, erklärte Mordent ihm, wobei er wie gewöhnlich jede Silbe einzeln aussprach. »Clarisse gibt es nicht.«
»Ist mir auch lieber so«, sagte der Brigadier. »Hat der Spanier den Verstand verloren?«
»Durchaus nicht. Auf dem Arm, der ihm fehlt, ist er von einer Spinne gebissen worden. Seit neunundsechzig Jahren hört es nicht auf, ihn da zu jucken. Er kratzt sich in der Luft an einer ganz bestimmten Stelle.«
Die Ankunft des Kellners wischte Estalères Sorgen fort; mit einem Satz sprang er auf, um die Sammelbestellung der Kaffees aufzugeben. Retancourt, die das Klappern der Teller nicht aus der Ruhe brachte, ging weiter die Fotos der Krankenschwester durch, während Veyrenc mit ihr sprach. Der Neue hatte sich nicht rasiert, und er hatte diesen milden und entspannten Ausdruck eines Mannes, der bis zum Morgengrauen Liebe gemacht hat. Was Adamsberg daran erinnerte, daß ihm Ariane durch die Lappen gegangen war, als er wie ein Stein in ihrem Auto eingeschlafen war. Die Lichter der Kirchenfenster ließen bizarre Farbflecken im gescheckten Haar des Lieutenant aufleuchten.
»Warum sollst ausgerechnet du Adamsberg schützen?« fragte Veyrenc Retancourt. »Allein?«
»Ist eine Gewohnheit.«
»Gut.
Dann kommt wohl Euch die
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