Die dritte Jungfrau
vorbeigelaufen ist. Oder weil eine arme Frau wie Hermance, die sie nicht mehr alle beisammen hat, mit dir sprechen will.«
»In Montrouge hat ein Kretin von Friedhofswärter ebenfalls einen Schatten gesehen. Und auch dort auf dem Friedhof hat ein Verrückter ein Grab aufbuddeln lassen, um den Sarg darin aufzubrechen.«
»Warum sagst du ›aufbuddeln lassen‹?«
»Weil zwei Burschen für diesen Dienst bezahlt worden sind, und jetzt sind sie tot.«
»Der Typ konnte nicht allein graben?«
»Es ist eine Frau, Robert.«
Robert öffnete den Mund, dann nahm er einen Schluck Weißen.
»Das ist unmenschlich«, sagte Oswald, »das will ich nicht glauben.«
»Es ist aber so geschehen, Oswald.«
»Und der Kerl, der die Hirsche aufschlitzt, ist der auch eine Frau?«
»Wo ist da der Zusammenhang?« fragte Adamsberg.
Oswald hielt die Nase in sein Glas und dachte nach.
»Es passiert zuviel auf einmal in der Ecke hier oben«, sagte er schließlich. »Vielleicht ist es dasselbe Gesindel.«
»Verbrecher haben ihre Vorlieben, Oswald. Zwischen dem Erschlagen eines Hirschs und dem Herumwühlen in Gräbern liegen Welten.«
»Wer weiß«, sagte der Unterstreicher.
»Der Schatten«, fing Oswald wieder an und wagte eine Frage, »ist es derselbe? Der, der hier rumgleitet, und der, der gräbt?«
»Ich glaube, ja.«
»Du wirst was unternehmen«, fragte er.
»Zunächst mal höre ich mir an, was du mir über Pascaline Villemot erzählst.«
»Wir haben sie immer nur an den Markttagen gesehen, aber ich kann dir sagen, sie war brav wie die Jungfrau Maria und ist verblüht, ohne was vom Leben gehabt zu haben.«
»Sterben ist eine Sache«, sagte Robert. »Aber wenn man nicht gelebt hat, ist es noch schlimmer.«
Und das juckt einen noch neunundsechzig Jahre später, dachte Adamsberg.
»Wie ist sie gestorben?«
»Es ist nicht gerade christlich, das zu sagen, aber ein Stein aus der Kirchenmauer hat ihr den Schädel zertrümmert, als sie das Gestrüpp an den Seitenschiffen wegräumte. Man hat sie bäuchlings am Boden gefunden, der Stein lag noch obendrauf.«
»Wurde eine Untersuchung eingeleitet?«
»Die Gendarmen aus Évreux sind gekommen und haben gesagt, daß es ein Unfall war.«
»Wer weiß«, sagte der Unterstreicher.
»Wer weiß was?«
»Ob’s nicht ein Einfall von Gott war.«
»Erzähl keinen Blödsinn, Achille. Die ganze Welt geht aus’m Leim, da hat Gott wohl was anderes zu tun, als Steine auf Pascalines Schädel zu schmeißen.«
»Hat sie wo gearbeitet?« fragte Adamsberg.
»Sie half beim Schuhmacher in Caudebec aus. Am besten könnte dir der Pfarrer darüber Auskunft geben, sie hockte dauernd in seinem Beichtstuhl. Er kümmert sich um vierzehn Gemeinden auf einmal, zu uns kommt er immer freitags, alle zwei Wochen. Und an den Tagen war Pascaline immer Schlag sieben in der Kirche. Obwohl sie wahrscheinlich die einzige Frau in Opportune war, die nie einen Kerl angefaßt hat. Man fragte sich, was die dem Pfarrer wohl groß zu erzählen hatte.«
»Wo liest er morgen die Messe?«
»Er hält keinen Gottesdienst mehr. Es ist vorbei.«
»Gestorben?«
»Bei dir muß immer gleich jeder sterben«, bemerkte Robert.
»Er ist nicht tot, aber so gut wie. Er hat eine Depression. Dem Fleischer in Arbec ist das auch passiert, zwei Jahre hatte er das. Man ist nicht krank, aber man legt sich hin und will nicht mehr aufstehen. Und man kann einfach nicht sagen, wieso.«
»Das ist traurig«, unterstrich Achille.
»Meine Großmutter nannte so was Melancholie«, sagte Robert. »Manchmal endete es im Dorfteich.«
»Und der Pfarrer will nicht mehr aufstehen?«
»Er soll wohl wieder auf den Beinen sein, allerdings komplett verändert. Aber bei ihm ahnt man, wieso. Wo ihm doch seine Reliquien geklaut wurden. Das hat ihn einfach fertiggemacht.«
»Wie seinen Augapfel hat er die gehütet«, bestätigte der Unterstreicher.
»Reliquien vom heiligen Hieronymus, die sein ganzer Stolz in der Kirche in Le Mesnil waren. Stell dir vor, drei Stückchen Hühnerknochen, die sich unter einer Glasglocke duellierten.«
»Oswald, beleidige nicht den Herrn, wir sitzen bei Tisch.«
»Ich beleidige niemanden, Robert. Ich sage nur, daß der heilige Hieronymus aus drei Nichtigkeiten bestand, mit denen man Dösköppe an der Nase herumführt. Aber für den Pfarrer muß es wohl schlimmer gewesen sein, als wenn man ihm die Eingeweide herausgerissen hätte.«
»Können wir trotzdem mal hinfahren?«
»Ich hab dir doch gesagt, daß da keine Reliquien mehr
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