Die dritte Jungfrau
Froissys dritte Besonderheit war, daß sie als staatlich geprüfte Elektronikerin acht Jahre beim Sende- und Empfangsdienst gearbeitet hatte, mit anderen Worten beim Abhördienst, wo sie in Sachen Geschwindigkeit und Effektivität wahre Wunder vollbracht hatte.
Sie traf Adamsberg um sieben Uhr morgens, als die kleine, ein wenig schmuddelige Bar gegenüber der Brasserie der Philosophen aufmachte. Die Brasserie, nobel und gutbürgerlich, schlug die Augen erst um neun Uhr auf, wohingegen das Proletencafé seine Rolläden bereits im Morgengrauen hochzog. Gerade waren in einer hölzernen Stiege die Croissants auf dem Tresen angekommen, und Froissy bestellte bei der Gelegenheit gleich mal ein zweites Frühstück.
»Die ganze Aktion ist natürlich illegal«, sagte Froissy.
»Versteht sich.«
Froissy schmollte und ließ ihr Croissant in der Teetasse aufweichen.
»Ich muß mehr darüber wissen«, sagte sie.
»Froissy, das Risiko, daß ein schwarzes Schaf sich in die Brigade eingeschlichen hat, darf ich einfach nicht eingehen.«
»Was sollte es denn bei uns wollen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Falls ich mich irren sollte, vergessen wir das Ganze, und Sie haben von nichts gewußt.«
»Außer daß ich ein paar Wanzen angebracht haben werde, ohne zu wissen, warum. Veyrenc lebt allein. Was wollen Sie da schon groß abhören?«
»Seine Telefongespräche.«
»Und? Falls er irgendwas im Schilde führt, wird er es wohl kaum am Telefon erzählen.«
»Falls er was im Schilde führt, handelt es sich um etwas extrem Gefährliches.«
»Ein Grund mehr, daß er darüber schweigt.«
»Ein Grund weniger. Sie vergessen die goldene Regel des Geheimnisses.«
»Nämlich?« fragte Hélène und sammelte die Croissantkrümel in ihrer Hand, um einen sauberen Tisch zu hinterlassen.
»Eine Person, die ein Geheimnis hat, und zwar ein so bedeutendes Geheimnis, daß sie ihr heiliges Ehrenwort gibt oder beim Grab ihrer Mutter schwört, es niemals irgend jemandem anzuvertrauen, verrät es zwangsläufig einer anderen Person.«
»Woher stammt diese Regel?« fragte Froissy.
»Von der Menschheit. Von ein paar seltenen Ausnahmen mal abgesehen, schafft es niemand, ein Geheimnis ganz für sich zu behalten. Je schwerwiegender es ist, desto mehr trifft die Regel zu. So schleichen sich Geheimnisse aus ihren Verstecken, Froissy, und wandern von einer Person, die schwört, es keinem weiterzusagen, zu einer nächsten Person, die es schwört, und immer so fort. Wenigstens eine Person weiß Bescheid über Veyrencs Geheimnis, insofern er wirklich eins hat. Dieser Person wird er davon erzählen, und genau das will ich hören.«
Das und noch etwas anderes, dachte Adamsberg, dem nicht ganz wohl dabei war, ein unverdorbenes Mädchen wie Froissy teilweise reinzulegen. Sein Entschluß vom Abend zuvor stand noch immer fest, er brauchte sich nur Veyrencs Hände auf Camille und, schlimmer noch, den unvermeidlichen Geschlechtsakt vorzustellen, und schon spürte er, wie sich sein gesamtes Wesen in eine Kriegsmaschine verwandelte. Neben Froissy fühlte er sich nur ein wenig schuftig, womit er leben konnte.
»Veyrencs Geheimnis«, wiederholte Froissy und schüttete die Krümel fein säuberlich in ihre leere Tasse. »Hat es mit seinen Gedichten zu tun?«
»Ganz und gar nicht.«
»Mit seinem Tigerhaar?«
»Ja«, gab Adamsberg zu. Er war sich bewußt, daß Froissy ohne ein wenig Hilfe die Grenzen der Legalität nicht überschreiten würde.
»Hat man ihm weh getan?«
»Schon möglich.«
»Rächt er sich?«
»Schon möglich.«
»Eine Rache auf Leben und Tod?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich verstehe«, sagte der Lieutenant und strich mit ihrer Hand methodisch wieder und wieder über den Tisch. Daß sie nichts weiter darüber herauskriegen konnte, brachte sie ein wenig aus dem Konzept. »Letztendlich hieße das also auch, ihn vor sich selbst zu schützen?«
»Genau«, sagte Adamsberg und war froh, daß Froissy ganz allein einen guten Grund gefunden hatte, Schlechtes zu tun. Man entschärft die Anlage, und schon kommt jeder damit zu Rande.
»Dann los«, sagte Froissy und holte Notizblock und Füller hervor. »Was peilen wir an? Welche Ziele gibt’s?«
Im Nu war die zurückhaltende und moralische Frau verschwunden und hatte der gefährlichen Technikerin, die sie war, Platz gemacht.
»Es reicht mir, daß Sie sein Mobiltelefon anzapfen. Hier ist seine Nummer.«
Während er auf der Suche nach Veyrencs Nummer in seiner Hosentasche kramte, fand Adamsberg das
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