Die dritte Jungfrau
sei wie ein Traum, nichts als ein Hirngespinst, das sie ein Kolloquium lang alle mitgerissen hatte. Andere, die Zögerlichen, ließen die Morde an Élisabeth und Pascaline gelten, gaben auch zu, daß sie durchaus im Zusammenhang mit der Verstümmelung des Katers und dem Diebstahl der Reliquien stehen könnten, lehnten es jedoch ab, dem Kommissar bis zu dem mittelalterlichen Heilverfahren zu folgen. Und selbst bei den letzten Anhängern der Theorie des De reliquis galt die Auslegung der Medikation inzwischen als nicht verbürgt und erklärungsbedürftig. In dem Text war keine Rede von einem Kater, und so wie die Dinge standen, konnte das männliche Prinzip genausogut Stiersamen sein. Nichts deutete auf das Gegenteil hin, wie auch nirgendwo ausdrücklich erwähnt wurde, daß es drei Jungfrauen brauchte, um das Elixier herzustellen. Vielleicht genügten auch zwei, und man arbeitete umsonst. Ebensowenig stand fest, daß die dritte Jungfrau drei bis sechs Monate vor dem ersten Wein ermordet werden würde. All das, vom seidenen Faden bis zur unwahrscheinlichen Beweisführung, bildete ein Gedankengebäude, das eher phantastisch denn realistisch war.
So machte sich mit jedem Tag mehr eine gänzlich neue, raunende Empörung in der Brigade breit, die – je mehr Zeit verging und je größer die Müdigkeit wurde – immer neue Anhänger gewann. Man erinnerte sich an den plötzlichen Rausschmiß von Noël, von dem man seitdem keine Nachricht hatte. Ein Rausschmiß, der immer unverständlicher geworden war, verhielt sich Adamsberg dem Neuen gegenüber doch äußerst unfreundlich und ging ihm, wenn möglich, aus dem Weg. Man murmelte, der Kommissar habe das Drama in Quebec nicht verkraftet, ebensowenig wie seine Trennung von Camille, den Tod seines Vaters und die Geburt seines Sohnes, die ihn mit einem Schlag zum alten Mann gemacht hatte. Man erinnerte sich an die Kiesel, die er auf jeden Tisch gelegt hatte, und einer der Männer äußerte die Vermutung, Adamsberg entwickle sich zum Mystiker. Und daß er, indem er in seine Gedankensümpfe abglitt, die gesamte Ermittlung gefährdete und seine Männer mit ins Verderben riß.
Diese Verdrossenheit wäre über das übliche Murren wohl nicht hinausgegangen, wenn Adamsbergs Verhalten dasselbe geblieben wäre. Aber seit dem Tag nach dem Kolloquium über die drei Jungfrauen war der Kommissar unzugänglich geworden, er erteilte schroffe und traurige Anweisungen und setzte keinen Fuß mehr in den Konzilsaal. Man hätte meinen können, sein Wasser sei zu Eis erstarrt. Die Rebellion fachte darum auch den Grundlagenstreit zwischen Positivisten und Wolkenschauflern wieder an, wobei die Truppe der Schaufler angesichts der fernen Kälte Adamsbergs zu schrumpfen begann.
Zwei Tage zuvor hatte eine heftige Auseinandersetzung die Gegensätze noch einmal verschärft, es ging darum, ob man die verdammten Reliquien und diese ganze Sache mit den angeblichen Überresten nun aufgeben sollte oder nicht. Mercadet, Kernorkian, Maurel, Lamarre, Gardon und natürlich Estalère standen geschlossen hinter ihrem Kommissar, den die Meuterei in seiner Brigade nicht zu kümmern schien. Danglard hielt sich gebieterisch auf der Brücke, obgleich er einer der ersten war, der Adamsbergs Entscheidung anzweifelte. Doch angesichts eines drohenden Aufstands hätte er sich eher in Stücke reißen lassen, als dies zuzugeben, und so verteidigte er glühend die These des De reliquis, ohne selbst noch daran zu glauben. Veyrenc bezog nicht Stellung und beschränkte sich darauf, seine Arbeit zu erledigen, bemüht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Zwischen ihm und dem Kommissar herrschte seit dem Tag nach dem Kolloquium über die drei Jungfrauen Kriegszustand, und er begriff nicht, warum.
Seltsamerweise stand Retancourt, eine der beharrlichsten Positivisten der Brigade, dem Streit gleichgültig gegenüber, ganz so wie eine blasierte Aufsichtsperson auf einem lärmenden Schulhof weiter ihren Job macht. Konzentriert und schweigsamer als sonst, schien Retancourt ganz mit einem Problem beschäftigt, das nur sie allein kannte. An diesem Tag war sie nicht einmal in der Brigade erschienen. Beunruhigt über ihr rätselhaftes Verhalten, hatte Danglard Estalère befragt, der als der beste Fachmann für die Mehrzweckgöttin galt.
»Sie wandelt ihre Energie insgesamt um«, diagnostizierte Estalère. »Für uns bleibt derzeit kein bißchen übrig und für die Katze kaum etwas.«
»Und in was, Ihrer Meinung nach?«
»Es ist keine
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