Die dritte Jungfrau
Geschichte von der Krankenschwester und dem grausigen Elixier nicht erzählen. Das ewige Leben, dachte er, während er im Regen parkte. Die Allmacht. Das Rezept aus dem De reliquis erschien lächerlich, der reinste Scherz. Aber ein Scherz, der die gesamte Menschheit in Fieber versetzte, seit ihren ersten Schritten in diesem kosmischen Nichts, das Danglard solche Angst einjagte. Ein mörderischer Scherz, für den die Menschen ihre Glaubensgebäude errichtet hatten und sich fortwährend gegenseitig umbrachten. Im Grunde hatte die Krankenschwester ihr Leben lang nichts anderes gesucht. Über Leben und Tod von Menschen entscheiden zu können, nach Belieben über ihr Dasein zu verfügen, das allein schon hieß Göttin sein und das Netz von Schicksalen spinnen. Und jetzt kümmerte sie sich um ihr eigenes. Sie, die über das Leben anderer geherrscht hatte, konnte nicht zulassen, daß der Tod sie auf gewöhnliche Art, wie eine normale alte Frau, zu sich holte. Ihre unermeßliche Befugnis über Leben und Tod würde sie nun für sich selbst nutzen, indem sie die Macht der Unsterblichen erlangte und sich auf ihren wahren Thron setzte, von dem aus sie ihr unheilvolles Werk fortführen würde. Sie war jetzt fünfundsiebzig Jahre alt, nun war es Zeit, der Zyklus der Jugend war fünfmal vorübergegangen. Es war Zeit, und sie wußte es seit jeher. Ihre Opfer hatte sie sich seit langem ausgesucht, Zeitpunkt und Vorgehensweise waren bereits bis ins kleinste Detail festgelegt. Die Frau war gewissenhaft, der Plan wurde Schritt für Schritt ausgeführt, nichts blieb dem Zufall überlassen. Sie war den Bullen nicht Monate, sondern mit Sicherheit zehn oder fünfzehn Jahre voraus. Die dritte Jungfrau war von vornherein verurteilt. Und wie hätte er, Adamsberg, mit seinen siebenundzwanzig Beamten, ja selbst mit hundert diesen so sicheren Vorsprung des Schattens verringern können.
Nein, Tom würde er erzählen, wie es in der Geschichte mit dem Steinbock weiterging.
Adamsberg stieg die sieben Stockwerke hinauf und klingelte mit zehn Minuten Verspätung.
»Falls du dran denkst, gib ihm die Nasentropfen hier«, sagte Camille und reichte ihm ein Fläschchen.
»Natürlich denke ich dran«, sagte Adamsberg und steckte das Fläschchen in seine Hosentasche. »Geh. Und spiel schön.«
»Ja.«
Basisgespräch unter Kameraden. Adamsberg klemmte Tom an seinem Bauch fest und legte sich aufs Bett.
»Weißt du noch, wo wir stehengeblieben waren? Erinnerst du dich an den netten Steinbock, der Vögel mochte, aber nicht wollte, daß der andere, rothaarige Steinbock auf seinen Berg geklettert käme und ihn ärgerte? Also, er ist trotzdem gekommen. Er näherte sich ihm, und seine großen Hörner fegten durch die Luft. Und dann sagte er: ›Du, du hast mir übel mitgespielt, als ich ein Kind war, das wirst du bereuen, mein Junge.‹ – ›Das waren doch nur dumme Streiche‹, antwortete der braunhaarige Steinbock, ›so sind Kinder nun mal. Geh wieder nach Hause, und laß mich in Frieden.‹ Doch davon wollte der rothaarige Steinbock nichts wissen. Denn er war von sehr weit her gekommen, um sich an dem braunhaarigen Steinbock zu rächen.«
Adamsberg machte eine Pause, und das Kind zeigte ihm mit einer Bewegung des Fußes an, daß es noch längst nicht schlief.
»Dann sagte der Steinbock, der viel herumgekommen war: ›Bedauernswerter Schwachkopf, ich werde dir deinen Grund und Boden wegnehmen, ich werde dir deine Arbeit wegnehmen.‹ Da kam ein sehr weises Kamel vorbei, das sämtliche Bücher gelesen hatte, und sagte zu dem braunhaarigen Steinbock: ›Nimm dich in acht vor dem Kerl, er hat bereits zwei Steinböcke umgebracht, und dich kriegt er auch noch.‹ – ›Ich will nicht auf dich hören‹, sagte der braunhaarige Steinbock zu dem weisen Kamel, ›du verlierst den Verstand, du bist eifersüchtig.‹ Doch unser braunhaariger Steinbock war nicht beruhigt. Weil der Rothaarige nämlich sehr schlau war und ziemlich gut aussah. So beschloß der Braunhaarige, den Neuen hinter einem Kaminschirm wegzusperren und dann ernsthaft nachzudenken. Gesagt, getan. Mit dem Kaminschirm lief alles glatt. Doch der braunhaarige Steinbock hatte einen Fehler, er konnte nicht ernsthaft nachdenken.«
Am Fuß des Kindes erkannte Adamsberg, daß Tom eingeschlafen war. Er legte die Hand auf seinen Kopf, schloß die Augen und atmete seinen Duft ein, er roch nach Seife, Milch und Schweiß.
»Parfümiert dich deine Mutter?« flüsterte Adamsberg. »Das ist idiotisch, Babys
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