Die dritte Jungfrau
Adamsberg, »wir müssen schneller vorankommen. Zuerst orientieren wir uns am Alter der beiden Opfer: Frauen zwischen Dreißig und Vierzig. Was ungefähr wieviel Frauen ergäbe, Mercadet?«
Man ließ den Lieutenant inmitten seiner Kaffeetassen eine Weile schweigend rechnen. Wie schade, sagte sich Adamsberg, daß Mercadet ständig einschlief. Er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis, insbesondere für Zahlen und Verzeichnisse.
»Ganz grob würde ich sagen, hundertzwanzig bis zweihundertfünfzig Frauen, die möglicherweise Jungfrauen sind.«
»Das sind immer noch zu viele«, sagte Adamsberg und zog mit den Zähnen an seiner Oberlippe. »Wir müssen das Areal noch mehr eingrenzen. Wir zielen auf ein zwanzig Kilometer großes Gebiet um Le Mesnil herum. Was ergibt das?«
»Vierzig bis achtzig Frauen«, sagte Mercadet sofort.
»Und wie sollen wir diese vierzig Jungfrauen ausfindig machen?« fragte Retancourt schroff. »Es ist schließlich kein Delikt, das im Strafregister steht.«
Jungfrau, dachte der Kommissar flüchtig und blickte kurz zu seinem molligen, hübschen Lieutenant hinüber. Retancourt hielt ihr Leben geheim, schützte es rigoros vor jeglicher Inquisition. Dieses akribische Kolloquium über die unberührten Frauen erbitterte sie vielleicht.
»Wir werden die Pfarrer befragen«, sagte Adamsberg.
»Fangen Sie bei dem in Le Mesnil an. Beeilen Sie sich, alle. Machen Sie notfalls Überstunden.«
»Kommissar«, sagte Gardon, »ich glaube nicht, daß es eilt. Pascaline und Élisabeth wurden vor dreieinhalb und vier Monaten umgebracht. Die dritte Jungfrau ist bestimmt längst tot.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Adamsberg und blickte zur Decke. »Und zwar wegen des heurigen Weins, der das Bindemittel für die gesamte Mischung ist. Der Wein, mit dem alle übrigen Zutaten verrührt werden, wird demnach der Novemberwein sein.«
»Oder der vom Oktober«, präzisierte Danglard. »Seinerzeit wurde der erste Wein früher gezogen als heute.«
»Alles klar«, sagte Mordent, »und weiter?«
»Wenn wir uns an das halten, was Danglard uns erzählt«, fuhr Adamsberg fort, »muß man auf ein ausgewogenes Gleichgewicht achten, damit die Mischung gelingt. Wenn ich dieses Gebräu zubereiten müßte, würde ich es so einrichten, daß zwischen den einzelnen Zutaten gleichmäßige Zeitabstände liegen und es nicht zu langen Unterbrechungen kommt. Wie ein Staffellauf, wenn Sie so wollen.«
»Es ist sogar zwingend«, sagte Danglard und nagte auf seinem Bleistift herum. »Im Mittelalter fürchtete man alles Ungleichartige, jeglichen Bruch. So was bringt Unglück. Was für eine Linie es auch sein mag, eine wirkliche oder eine abstrakte, sie darf niemals unterbrochen oder gestört werden. In allem muß man einer stetigen und wohlgeordneten Entwicklung folgen, geradlinig muß sie sein und reibungslos.«
»Nun hat das Massaker an dem Kater und die Plünderung der Reliquien drei Monate vor Pascalines Tod stattgefunden«, fuhr Adamsberg fort. »Und das Lebendige der Jungfrauen wurde drei Monate nach ihrem Tod beschafft. Drei wie die Anzahl der Prisen, drei wie die Anzahl der Jungfrauen, drei wie die Länge einer Jahreszeit. Das letzte Lebendige wird also drei Monate vor dem jungen Wein beschafft werden oder unmittelbar davor. Und die Jungfrau wiederum wird drei Monate davor ermordet werden.«
Adamsberg hielt inne und zählte mehrmals an den Fingern ab.
»Es ist also sehr wahrscheinlich, daß diese Frau noch lebt, aber ihr Tod für ein unbekanntes Datum zwischen April und Juni vorgesehen ist. Heute ist der 25. März.«
In drei Monaten, in vierzehn Tagen oder einer Woche. Schweigend schätzte jeder die Dringlichkeit und die Unmöglichkeit dieser Aufgabe ein. Denn angenommen, es gelänge tatsächlich, eine Liste sämtlicher jungfräulicher Frauen in dem um Le Mesnil gezogenen Kreis aufzustellen, woher wüßte man dann, welche von ihnen der Todesengel sich ausgesucht hatte? Und wie sollte man sie schützen?
»Dennoch ist all das ausgemachte Spekulation«, sagte Voisenet, und ein Ruck ging durch seinen Körper, als erwachte er nach dem Ende eines Films und glaubte plötzlich nicht mehr an die Fiktion, die ihn für eine Weile mitgerissen hatte. Wie alle übrigen auch.
»Nichts anderes«, sagte Adamsberg.
Ein Flügelschlag zwischen Himmel und Erde, dachte Danglard besorgt.
34
Das Kolloquium hatte sich hingezogen, Adamsberg war spät dran und mußte seinen Wagen nehmen, um zu Camilles Atelier zu kommen. Tom würde er die
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