Die Drohung
ratlos.
Das Dach hing an der stählernen Stütze, die statischen Berechnungen waren so präzise, daß ohne eine umfangreiche Unterfangung der 8.300 Acrylglasplatten das Fundament nicht aufzugraben war. Zahlen wurden genannt, die nur Fachleute verstanden: 440 Meter Randkabel, 35 Meter tiefe Gründung des Mastes, pro Fundament 1.600 Kubikmeter Beton, Eigengewicht der Säule 3.600 Tonnen, Höhe 80 Meter. Die Statik hatte ein Computer berechnet, eine Rechnung mit über 10.000 Unbekannten. Er schaffte völlig neue Denkvorgänge, die bisher noch kein menschliches Hirn bewältigt hatte. Nun hing das Wunderzeltdach über dem Gelände, ein Weltwunder, wenn man so wollte, grandioser als die klassischen Weltwunder, die uns heute wie Sozialbauten anmuten. Was war der Koloß von Rhodos, was die Hängenden Gärten der Semiramis, was die Pyramiden von Gizeh gegen dieses Dach aus Stahl und Glas? Sollte man es einreißen, vier Wochen vor Eröffnung der Olympischen Spiele? Selbst ein Herunterlassen des Daches mit nachfolgendem Ausbau der Stahlsäule, unter der die Plutoniumbombe lag, war zeitlich nicht mehr zu schaffen.
»Dieses Problem löst kein Computer!« sagte der Bayerische Innenminister, der auch zum Stadion gerufen wurde. »Was sagen die Experten?«
»Wenn wir die Bombe suchen, muß das gesamte Fundament aufgerissen werden.« Der Chef der Olympiabaugesellschaft ließ keinen Zweifel, was das bedeutete. »Diese Säule hier ist einer der Hauptträger des Daches. An ihr laufen die großen Bündel der Spannseile zusammen. Mit anderen Worten: Das Dach muß weg, wenn wir die Säule ausbauen.«
»Das ist das Ende der Olympischen Spiele!« sagte der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. »Sagen wir es ganz klar.«
»Ja!«
»Zwei Milliarden umsonst, und die Blamage in der ganzen Welt!«
»Verflucht – wir zahlen diese 30 Millionen Dollar dem Erpresser!«
»Das nützt nichts mehr.« Der Polizeipräsident sagte es ganz leise. »Wir wissen jetzt, daß dieses Geld nur ein Nebenfaktor ist! Er würde die Bomben trotzdem zünden! Er ist ein Irrer! Alles liegt jetzt in der Hand dieses Amerikaners Cortone. Er hat den Impulsgeber bei sich. An einem kleinen Kasten, den man an eine Lichtleitung anschließt oder an eine kleine Batterie, hängt das Schicksal der Stadt München, vielleicht sogar Mitteleuropas. Das ist unvorstellbar … aber der Mensch muß sich daran gewöhnen, das Unvorstellbare als tägliche Realität zu akzeptieren. Der Mensch selbst hat den Begriff des Unmöglichen abgeschafft. Es ist alles möglich! Wir haben die Schöpfungsgeschichte überrundet! Das ist die Lage.«
»Mit anderen Worten: Jetzt kommt es auf unsere Polizei an.« Der Bayerische Innenminister starrte den Polizeipräsidenten an. »Das Schicksal Münchens heißt Beutels.«
»Immer die Polizei!« Der Polizeipräsident verzog das Gesicht, als habe er heftige Gallenschmerzen. »Auch wir sind nur Menschen.«
»Ich gebe Ihnen alle Vollmachten! Auch für alles, was außerhalb der Legalität liegt. Ein solcher Fall rechtfertigt alles.«
»Danke, Herr Minister.« Der Polizeipräsident verbeugte sich etwas ironisch. Ihm blieb nichts anderes übrig. »Das ändert nichts an der Tatsache: Wir müssen mit zwei Atombomben leben!« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Fundament der 80 Meter langen und 3.600 Tonnen schweren Stahlsäule. »Da liegt sie drunter, und wir kommen nicht an sie heran. Wenn das kein Beweis der für unsere Zeit so charakteristischen Ohnmacht ist!«
Man schwieg, blickte auf die Säule und spürte die eigene schreckliche Winzigkeit. Eine alles, was Menschen bedeutete, aufweichende Angst, die sich an einen einzigen Mann klammerte: Beutels.
Diese Hoffnung der Verzweifelten hockte bis tief in die Nacht am Telefon der ›Alpenrose‹ und ließ sich die Meldungen durchgeben. Dann fuhr er zum Präsidium, wo an der großen Gebietskarte ›Umgebung München‹ die Fähnchen gesetzt waren wie bei einem Generalstabsplanspiel und wie die Standorte der Suchwagen verfolgt wurden. Die Funktelefone plärrten.
»Na?« fragte Beutels. Er wußte die Antwort im voraus, er wollte nur etwas sagen, nicht stumm untergehen.
»Nichts, Herr Kriminalrat.«
»Suchhunde?«
»Alle verfügbaren sind im Einsatz. Die Hubschrauber sind zurückgezogen, keine Sicht mehr.«
Beutels setzte sich in eine Ecke auf einen Stuhl. Hier bleibe ich, dachte er. Hier bleibe ich hocken, bis ich umfalle.
»Starken Kaffee, Butterbrote, Cognac und einen großen Aschenbecher
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