Die Drohung
lag Lucretia Borghi auf der Straße.
»Holt sie rein!« sagte Platzer. Er stand noch im Flur, im Schatten, in sicherer Deckung.
Als höben sie ein Paket auf, beugten sich die vier Männer über Lucretia, nahmen sie in die Mitte und trugen sie ins Haus. Niemand störte sie. Die Stille auf der Straße war fast weihnachtlich.
Nur eine Sekunde lang beging Platzer einen Fehler, keiner weiß warum. Bevor er die Tür schloß, schaute er blitzschnell hinaus, mit einem wieseligen Rundblick. Aber das genügte.
Wie Harvey Long wunderte sich auch Platzer, daß plötzlich die Welt aus den Fugen geriet. Er hörte den leisen Knall nicht mehr, er spürte nicht einmal bewußt den Schmerz, der sich in seinen Kopf bohrte … als die Kugel die Schädeldecke durchdrang – ein Beweis, daß der Schuß von oben kam –, zerriß sie sofort das Schmerzzentrum seines Gehirns.
Jack Platzer starb human – er spürte nichts.
Als die vier Scharfschützen nach Erstürmen des Hauses Nr. 48 und Durchsuchung aller Wohnungen endlich im sechsten Stock bei dem Polsterer Lucius Hombard erschienen und den zitternden, bleichen Mann mit einer dicken Beule auf dem Teppich sitzen sahen, die Arme hoch über dem Kopf erhoben und schreiend: »Verschont mich! Ich habe keinen Dollar übrig! Ich bin ein kleiner Handwerker! Auf wen habt ihr denn geschossen?« war Bertie Housman längst über eine Bodentür und über das Dach in der Nacht verschwunden.
Kurz darauf schlug das Telefon bei Cortone wieder an. Man brauchte nicht zu rätseln, wer anrief.
»Wir sind quitt«, sagte Dulcan in gemütlichem Plauderton. »Trittst du meinen Esel, tret' ich deinen Esel … altes Spiel aus der Heimat. Wie geht es Lucretia?«
Cortone knirschte mit den Zähnen. »Sie schläft in meinem Bett. Wie lange hält die Betäubung an?«
»Bis morgen früh. Heute nacht kannst du sie leider nur ansehen. Mauri?«
»Ja?«
»Soll das so weitergehen mit uns?«
Cortone schwieg. Dulcan wußte, daß sein Partner in einem Meer von Racheplänen schwamm. Hatte das einen Sinn? Mit 60 Jahren noch einmal Krieg?
»Mauri«, sagte er eindringlich, »uns bleiben 10 oder 15 Jahre. Was sind 15 Jahre? Du spuckst gegen den Wind, und wenn dir der Speichel wieder im Gesicht klebt, sind die 15 Jahre um. Wir kennen uns beide zu gut. Warum wollen wir uns nicht arrangieren? …«
»Warum hast du Lucretia nicht an mich übergeben wie vereinbart? Im Sheraton-Hotel?«
»Sie weigerte sich. Als ich das Thema nur antastete, heulte sie los. Um mein Versprechen dir gegenüber zu halten, habe ich …«
»Wann?« fragte Cortone knapp. Dulcan unterbrach sofort seinen südländischen Redefluß. Die Frage ›Wann?‹ ist die konkreteste Frage. Sie schafft klare Zeiten.
»Morgen zum Dinner im Hilton? Ungarischer Grill?«
»Einverstanden. Allein!«
»Natürlich allein. Wir sind doch Freunde …«
Mit einem Laut, der wie ein Seufzer klang, beendete Cortone das Gespräch.
Moskau
Afanasij Alexandrowitsch Abetjew war ein Mensch, den man schnell wieder vergaß. Er trug eine randlose Brille, hinter der wasserhelle, etwas verschlafene Augen stets mit einem tieftraurigen Blick die Umgebung musterten, und wenn nicht ein ärztliches Zeugnis vorgelegen hätte, daß Afanasij kerngesund sei, hätte jeder geschworen: Der arme Mensch hat's auf der Lunge. So bleich, so eingefallen, so ausgezehrt, so still. Paßt auf, gleich fällt er um und gibt seine Seele auf. Erinnert ihr euch an den guten, armen Prokorij Stepanowitsch? Ein Kerl wie ein Baum, der senkrecht stehenblieb, wenn der Wintersturm um die Ecken heulte, und plötzlich schrumpft er zusammen, sein Kopf wird klein wie der einer Maus, seine Augen verschwinden in den Höhlen, er hustet viermal kräftig, spuckt Blut, und hin ist er! Wer hätte das gedacht. Und nun betrachtet Afanasij Alexandrowitsch Abetjew, Genossen, diesen in sich gekehrten Einsiedler von Büro 14, Sektion III. Ein bedauernswertes Brüderchen, das bestimmt seinen Husten verschluckt, damit niemand hört, wie der Tod in ihm rumort.
Sie alle irrten. Afanasij erfreute sich bester Gesundheit. Bleich war er nur, weil das Büro seine Welt war. Na, sagen wir: zu drei Viertel seine Welt. Das letzte Viertel gehörte seiner Frau Vera Antonowna und seinen sechs Kindern. Das war die größte Überraschung, daß ein Mensch wie Afanasij nicht nur die Zeit, sondern auch die Kraft fand, sechs Kinder zu zeugen, und alle stramm, gut gewachsen, gut genährt, Prachtexemplare der neuen sozialistischen Generation. Von morgens
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