Die Drohung
breiten Ausfallstraßen brach jeden Nachmittag der Verkehr in München zusammen. Am Morgen bis ½ 9 Uhr das gleiche Bild … eine träge, bunte Blechschlange, umgeben von Dunst und Gestank, langsam weiterkriechend, knurrend, aufschreiend, kreischend. Der Drache im Märchen lebte wirklich. Er hieß Fortschritt, Zivilisation, Wohlstand.
Für Lepkin, den Russen, war es immer faszinierend, dieses Schauspiel zu betrachten. In New York, Paris, Rom, München, London, Hamburg, Mailand, Chikago, New Orleans, Turin, Köln oder Stuttgart … die Riesenviper aus buntem Blech, von der der Mensch dachte, er regiere sie, während er schon längst von ihr gefressen war. An solchen Abenden bekam Lepkin Sehnsucht nach seiner russischen Weite, nach dem klaren Himmel und der frischen Luft, die beim Atmen noch die Lunge mit Sauerstoff aufblähte und nicht mit Giftgasen und Chemikalien. Warum eigentlich die Eile, dachte Lepkin oft, wenn er im Westen war. Unsere Politik ist falsch. Schweigen wir von der Weltrevolution, warten wir ab … der Westen vergiftet sich selbst. Es bleibt uns später vorbehalten, die Überlebenden aufzusammeln. Eine fast humanitäre Eroberung.
»Wann soll ich mich um Bossolo kümmern?« fragte Smelnowski, als Lepkin versonnen schwieg und die Autoschlange betrachtete.
»Das überlasse ich Ihnen, Ivan Prokojewitsch. Die Vorbedingung ist: Unauffällig. Er muß plötzlich verschwunden sein.«
»Von übermorgen früh an wird immer ein Genosse das Präsidium überwachen.«
»Nehmen Sie zwei, Smelnowski. Bossolo kann auch aus dem Seitenausgang kommen.«
»Und wie erreiche ich Sie, Genosse Major?«
»Ich rufe Sie an, Iwan Prokojewitsch.« Lepkin ließ die Gardine zurückfallen und trat ins Zimmer zurück. »Ich werde mit Holden einen kleinen Schwabingbummel machen. Irgendwann wird sich die Gelegenheit ergeben, ein Telefon aufzusuchen. Versagen Sie nicht, Smelnowski.«
Iwan Prokojewitsch schüttelte den Kopf und verließ schnell das Zimmer. Der letzte Satz bewies ihm, daß Lepkins äußeres Bild täuschte. Er war kein Sorgenkind, wie ihn Abetjew manchmal nannte, wenn Lepkin allzu dekadent von seinen westlichen Ausflügen nach Moskau zurückkam. Die Worte ›Versagen Sie nicht!‹ waren beste Kremlvokabeln. Ein Eishauch aus meterdicken Gewölben.
An diesem Abend telefonierte Lepkin mit Holden. Er hatte Glück, Ric war auf seinem Zimmer im Sheraton-Hotel. »Ein Vorschlag, Brüderchen«, sagte Lepkin bewußt breit in bilderbuchhafter russischer Ausdrucksweise. »Gehen wir ein gutes Stück essen? Amerikanisch oder russisch, wie willst du?«
»Bayrisch!« sagte Holden und wunderte sich über diese Einladung. »Lepkin, eine Frage: Langweilen Sie sich trotz der schönen Mädchen im Holiday Inn? Warum sieht man Sie nicht mehr in der Sonderkommission? Ihr Vaterland wird böse sein.«
»Ich halte nicht viel vom Theoretischen.« Lepkin betrachtete seine Hände. Die Nägel mußten wieder manikürt werden; er nahm sich vor, diese Zeit in seinen Plan einzukalkulieren und morgen früh zwei Stunden für Friseur und Nagelpflege zu reservieren. Wenn Abetjew dies erfuhr, würde er wieder mit den Augen rollen und düster weissagen: »Stepan Mironowitsch, es wird soweit kommen, daß wir Sie umerziehen müssen. Danken Sie dem Himmel, daß Sie einen Freund in mir haben.«
Ric Holden konnte mit dieser Antwort nichts anfangen, aber sie machte ihn trotzdem vorsichtig. »Alles, was wir bisher tun konnten, ist Theorie. Oder haben die Sowjets Konkretes in der Hand?«
»Noch nicht.«
»Ihr ›noch‹ beunruhigt mich, Lepkin.«
»Unterhalten wir uns übermorgen darüber, ja? Soll ich zu Ihnen kommen, oder holen Sie mich ab?«
»Ich hole Sie ab, Lepkin.« Holden machte sich eine schnelle Notiz auf dem neben dem Telefon liegenden Block. »20 Uhr?«
»Sehr gut, Brüderchen. Ich wünsche einen netten Abend.«
Holden legte langsam auf. Hinter Lepkins Freundlichkeit und seiner Einladung verbarg sich irgendeine Aktion. Man kannte sich gegenseitig zu gut, als daß ein Zusammentreffen nur aus reiner Freundschaft stattfinden konnte. Siebenmal waren Lepkin und Holden bisher aufeinandergetroffen, und es ging aus wie das Footballspiel zweier gleichwertiger Mannschaften: Man trennte sich unentschieden. Nicht ein Tor gelang, und es war eigentlich nie zu erkennen, wer der Angreifer und wer der Verteidiger war. Bei H.J. Berringer brauchte Holden schon gar nicht mehr zu erklären, was geschehen war, wenn er heimkam und sagte: »Ich habe Lepkin gesehen!«
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