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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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anständigen Prozess abgeurteilt wurden.
    »Ich habe den Beweis!«, rief der Mann neben dem Bischof. Er deutete auf ein Weib, das in einer der vorderen Reihen dem Geschehen beiwohnte. Mit einem Jungen an der Hand, der sich hinkend in Bewegung setzte, bahnte sie sich nun einen Weg nach vorne.
    Albrecht reckte den Hals, um mehr erkennen zu können. Erst als die Frau die Stufen erreichte, konnte er einen Blick auf den Knaben werfen und begriff sofort, was nun folgen würde. Seine Hoffnungen schwanden.
    Der Junge hatte einen übermäßig großen, runden Schädel. Sein Gesicht war flach, fast wie eingedrückt, mit einer breiten Nasenwurzel, tief sitzenden Ohren und zwei übermäßig großen, weit auseinanderstehenden Augen. Sein Mund war geöffnet, die Zunge hing ihm schräg heraus.
    Die Frau begann laut zu schluchzen. Ihre Schultern bebten. Der Redner legte tröstend einen Arm um sie, während er den anderen in Richtung Zuhörer erhob.
    »Sag, Frau, was du gesehen und selbst erlebt hast!«
    Nach diesen Worten breitete sich wieder eine gespenstische Stille unter den Menschen aus. Wyland schluckte schwer und sah hilflos zu Cornelius, der neben ihm stand. Dessen Hände waren zu Fäusten geballt, doch das war das Einzige, was noch darauf schließen ließ, dass der Freund den Kampf nicht für ebenso verloren hielt wie er selbst.
    »Mein Sohn!«, heulte die Frau. »Er war ein ganz normales Kind.« Sie schluchzte, und schweigend beobachteten die Menschen die von Schüttelkrämpfen Gepeinigte, bis sie erneut zu sprechen vermochte.
    »Mein Sohn … er hat es gesehen! Er hat den Frevel, der an den Gebeinen der Heiligen begangen wurde, mit eigenen Augen gesehen! Es hat ihn wahnsinnig werden lassen. Wahnsinnig!« Einen kurzen Moment bewegte sich niemand, keiner sprach. Es war, als würde in diesem Augenblick die Zeit stillstehen. Dann brach Chaos aus.
    Die Menschen brüllten und schrien, liefen los, über die Treppen, zu allen Seiten hin. Sie drängten, schubsten und stießen. Wer stolperte und zu Fall kam, wurde ohne jede Rücksicht von der Menge niedergetrampelt.
    »Zum Judenviertel! Schnell!« Wyland nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, um sich zu vergewissern, ob seine Begleiter ihm folgten. Wie von Sinnen stieß und drängte auch er, kletterte über Leiber hinweg und rannte, als ginge es um sein eigenes Leben.

    Esther hatte den Älteren, die ihren Vater aufgesucht hatten, aufmerksam zugehört. Es war um eine Schändung gegangen, die einigen Leuten als Vorwand dienen würde, um ihnen ihr Hab und Gut zu entreißen und sie aus der Stadt zu vertreiben. Sie hatte die Worte gehört, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es wirklich dazu kommen würde.
    Nun trug ihr Vater das Holzkästchen mit den bunten Blumenbemalungen in der einen Hand und hielt sie an der anderen, während er mit großen Schritten den Garten durchmaß und schließlich niederkniete.
    »Du musst dir die Stelle genau merken, hörst du, Esther? Das ist sehr wichtig. In dieser Truhe sind Münzen und Schuldscheine.«
    Sie nickte stumm. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
    »Warum vergraben wir unser Geld?«
    »Weil es nicht mehr sicher ist, genau wie wir. Hier.« Er drückte ihr ein kleines Säckchen in die Hand. »Darin ist genug, um anderswo neu zu beginnen. Nimm es.«
    »Weshalb soll ich es nehmen? Behalt du es!«
    »Jetzt hör mir zu!« Er umschloss mit beiden Händen die ihren und sah ihr fest in die Augen. »Mein Kind, ich liebe dich, wie ein Mensch einen anderen Menschen nur lieben kann. Du bist mein Glück und meine große Freude. Dich an meiner Seite aufwachsen zu sehen war für mich das größte Geschenk, das Adonai den Seinen nur machen konnte. Das weißt du auch, nicht wahr?«
    Esther wurde es eiskalt. Das Gefühl, dass ihr der schwerste Abschied ihres ganzen Lebens bevorstand, ergriff sie mit solcher Macht, dass sie kaum noch atmen konnte.
    »Ich weiß es«, brachte sie mühsam hervor.
    Benjamin lächelte. »Siehst du, mein Kind, und nur das ist wichtig. Es ist das Einzige, was zählt. Die Liebe zwischen Vater und Tochter und die Gewissheit, dass Adonai uns beistehen wird, was auch immer geschieht.«
    Esther wusste nicht, was sie hierauf erwidern sollte, und sah ihn nur an. Benjamin nickte bestätigend und begann dann mit bloßen Händen eine Kuhle in den Erdboden zu graben, in die er die Holzkiste hineinstellte. Danach bedeckte er den Aushub wieder mit Erde und wischte mit der Hand

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