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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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den Unterleib. Esther war wie gelähmt, der Schrei, den ihr Vater ausstieß, war unmenschlich.
    Dann aber sprang sie dem Mann von hinten auf den Rücken und versuchte, ihn von ihrem Vater fortzuziehen. Mit ihren Armen umklammerte sie seinen Hals und versuchte, ihm die Luft abzuschnüren. Doch der packte nur ihre Handgelenke, löste ihre Hände von seiner Kehle und versetzte ihr einen solchen Schlag, dass sie mit dem Kopf gegen die Wand stieß. Wie durch einen Schleier hindurch nahm sie wahr, dass die Klinge aus dem Körper ihres Vaters herausgezogen wurde. Auf allen vieren robbte sie zu ihm hinüber, umfasste mit beiden Händen seinen Kopf und legte ihre Wange an die seine. »Vater.«
    Ihr Schluchzen ließ den Verwundeten noch einmal seine letzte Kraft zusammennehmen. »Meine Esther.« Seine Stimme klang sanft.
    »Wie rührend!« Der Angreifer spuckte vor ihnen auf den Boden. Spritzer seines Speichels trafen Esther im Gesicht.
    Dann wurde sie auch schon hochgerissen und gegen die Schranktür geschleudert. Benommen schüttelte sie ihren Kopf und wollte sich gerade wieder aufrappeln, als sie auf einmal direkt in die matten Augen ihres Vaters blickte. Der Angreifer hatte dessen Oberkörper aufgerichtet und hielt ihn in dieser Stellung von hinten fest, so dass Benjamin nun fast aufrecht vor ihr saß. Mit seiner anderen Hand drückte Benjamins Peiniger ein Messer gegen dessen Kehle. Blut quoll unter der Klinge hervor.
    Esther sah dem Mann in die Augen. »Bitte, habt Erbarmen! Bitte!«
    »Du flehst mich um Erbarmen an?« Die Stimme des Mannes klang völlig ungerührt. »Ich kenne kein Erbarmen.« Er nahm das Messer von Benjamins Hals, leckte mit der Zunge die Klinge entlang und schloss genussvoll die Augen, als sich der Geschmack des Blutes in seinem Mund ausbreitete. Doch noch mehr als der Anblick ihres sterbenden Vaters ließ Esther das Verhalten des Mannes erschauern, als er seine Augen wieder öffnete. Seine Pupillen waren so sehr geweitet, dass sie wie riesige schwarze Löcher wirkten. Ohne Leben und kalt. Dann verdrehte er die Augen, bleckte die Zähne, legte das Messer wieder an Benjamins Kehle und durchschnitt sie mit einer einzigen Bewegung. Dabei entfuhr ihm ein lautes, genussvolles Stöhnen.
    Der Schnitt war so tief, dass Benjamins Kopf nach hinten kippte und nur noch von wenigen Muskelsträngen am Rumpf gehalten wurde.
    Esther schrie und konnte nicht mehr aufhören zu schreien. Sie merkte nicht, dass Wyland mit gezücktem Schwert in den Raum hereinstürmte und dort zunächst fassungslos auf die brutale Szenerie, die sich ihm bot, blickte. Erst als er sie am Arm auf die Beine zog und zur Tür hinaus auf den Korridor stieß, kam sie wieder einigermaßen zu sich. Schnell trat Wyland ins Zimmer zurück und stellte sich dort dem Mann entgegen, den er als Helme von Minden in Egidius’ Haus kennengelernt hatte und der über und über mit dem Blut seines Freundes besudelt war.
    »Dafür wirst du hängen! Das schwöre ich dir!«
    »Schwör nicht, was du nicht halten kannst.«
    Beide Männer holten aus, ihre Klingen kreuzten sich in der Luft. Noch während der Kampf in vollem Gange war, eilte Esther die Treppe hinab und auf die Straße. Dort schienen alle um sie herum dem Wahnsinn verfallen zu sein. Häuser brannten, Menschen schrien und rannten um ihr Leben. Metallener Blutgeruch mischte sich mit Qualm. Frauen wurden auf offener Straße vergewaltigt, bevor ihnen, genau wie ihren Männern und Kindern, die Kehlen durchschnitten wurden. Mit jedem Schritt, den sie tat, entdeckte Esther mehr Menschen, mit denen sie aufgewachsen war, gebetet, gegessen und gefeiert hatte, und die nun vor ihren Augen abgeschlachtet wurden. Eine Hand griff nach ihr. Mit einer nie zuvor verspürten Kraft riss sie sich los, bückte sich und griff nach einem Messer, das neben einem Toten am Boden lag. Dann stach sie wie von Sinnen auf die Brust des Mannes ein, von dem sie sich bedroht fühlte. Er ächzte und ging zu Boden. Aus dem Innern ihres Elternhauses hörte sie noch immer Kampflärm, dazu laute Rufe. Sie musste weg von hier, nur weg!
    Sie stieß auf sie zukommende Menschen zur Seite, fuchtelte mit dem Messer herum und stach immer wieder zu, sobald sie jemand berührte. Sie lief und lief, wohin, wusste sie nicht, bis die Menschen um sie herum schließlich weniger wurden, keine Hände mehr nach ihr griffen und an ihr zerrten. Als zuletzt auch keine Schreie mehr an ihr Ohr drangen, wagte sie das erste Mal, stehen zu bleiben und sich

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