Die Duftnäherin
darüber, so dass sich die Stelle kaum noch von dem sie umgebenden Erdboden abhob.
»Komm jetzt.«
Sie erhoben sich und gingen ins Haus zurück. Esther schob das Geldsäckchen unter ihre Kleidung und vergewisserte sich, dass es dort nicht verrutschen konnte.
»Wir werden jetzt ein paar Dinge zusammenholen und dann die Stadt verlassen.« Noch bevor seine Tochter etwas darauf erwidern konnte, stellte er klar: »Du holst jetzt ohne zu zögern deinen Gebetsschal und ein Wechselkleid. Mehr nicht. Und du tust es so schnell du kannst.«
Sein Tonfall duldete nicht den geringsten Widerspruch.
Esther ging sofort auf die Treppe zu. »Ist Sophia noch hier?«
Benjamin schüttelte den Kopf. »Ich habe sie heimgeschickt. Selbst als Christin ist sie in einem Judenhaus nun nicht mehr sicher.«
Das beklemmende Gefühl, das sich wie ein schweres Gewicht auf ihre Brust gelegt hatte, blieb, als sie die Stufen hinaufstieg und zu ihrem Zimmer ging. Draußen auf der Straße waren laute Rufe zu hören. Esther ging wieder zum Treppengeländer und schaute in den Flur hinab. Ihr Vater, der seinen Blick eben noch auf die Eingangstür geheftet hatte, drehte sich um und sah zu ihr hinauf. Sie erschrak. Er war so blass, dass seine Haut fast durchsichtig schien. In seinen Augen stand nackte Angst.
»Schnell!«, rief er.
Sofort stürzte Esther in ihr Zimmer, nahm sich ein Wechselkleid und griff nach ihrem Gebetsschal. Das Kleid stopfte sie in ein Tragetuch, den Schal legte sie sich um den Hals und stopfte ihn unter ihre Kleidung, so dass er nicht mehr zu sehen war.
Auf der Treppe hörte sie die eiligen Schritte ihres Vaters, der schon im nächsten Moment ihr Zimmer betrat.
»Wir müssen fort, schnell!«
Sie griff nach dem Tragetuch und folgte ihm, als er eilig wieder die Stufen hinablief. Unten angekommen, rannten sie zur Tür. Das Geldsäckchen unter ihrem Kleid drückte und scheuerte gegen ihre Haut, doch Esther nahm es kaum wahr. Als Benjamin die Tür öffnete, wich er sofort wieder zurück. Auf der Gasse war ein Tumult ausgebrochen. Die jüdischen Bewohner des Viertels, Männer, Frauen und Kinder, wurden in Todesangst von einer Meute Christen vor sich hergetrieben, es roch nach Blut, Schweiß und Feuer. Auf der anderen Seite der Gasse fraßen sich die Flammen bereits gierig durch das Dach des Hauses, das Benjamins Freund Jonathan gehörte. Im oberen Stock war ein Fenster geöffnet, durch das der Freund und dessen Frau Hannah ihre Angst und Verzweiflung laut hinausschrien. Unter dem Fenster war ein Mann stehen geblieben, der nun seine Arme ausbreitete, um die kleine Tochter des Ehepaars, die Hannah so weit wie möglich mit den Beinen nach unten aus dem Fenster hielt, aufzufangen. Die kleine Rinah kreischte aus Furcht vor der Tiefe. Doch während um ihn herum das Chaos tobte, streckte der Mann unter dem Fenster unbeirrt weiter seine Arme in die Höhe. Benjamin erkannte in ihm den Patrizier Wyland.
»Vater!«, schrie Esther, als nun ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, mit gezücktem Schwert die wenigen Stufen zu ihrem Vorgarten heraufsprang. Benjamin stieß Esther zurück ins Haus und versuchte, die Tür zu verschließen. Doch der Angreifer schob blitzschnell den Knauf seines Schwertes in den Türspalt.
»Hinauf!«
Sie rannte um ihr Leben. Die Schritte ihres Vaters waren direkt hinter ihr. Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, ließ ihren Vater hinein und schob sogleich einen Stuhl unter die Klinke.
Benjamin stemmte sich mit aller Kraft gegen die Seitenwand des Schrankes, der sich gleich neben der Tür befand. Nur ein kleines Stück, und man würde die Tür nicht mehr so leicht aufbekommen. Er nahm all seine Kraft zusammen und schob nun gemeinsam mit Esther, die ihm beigesprungen war, so kräftig er es vermochte. Der schwere Schrank bewegte sich quietschend über die Dielen und drückte eine tiefe Schleifspur in den Boden. Doch schon warf sich der Angreifer mit aller Kraft gegen die Tür, die jeden Moment nachzugeben drohte. Nur noch ein weiteres kleines Stück, dann würde das Möbel den Eingang versperren.
In diesem Moment wurde die Tür mit voller Wucht aufgebrochen. Holz splitterte, der Stuhl unter der Klinke flog gleich einem Geschoss durch den Raum.
Esther schrie entsetzt auf, denn schon war der Mann mit gezücktem Schwert in den Raum gesprungen und griff nach Benjamin, den er wie einen nassen Sack zu Boden schleuderte. In einer einzigen fließenden Bewegung hob er das Schwert und rammte es seinem Opfer mit Wucht in
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