Die Duftnäherin
umzusehen.
Sie befand sich im Kölner Hafen, mit blutbefleckter Kleidung und tiefen Schrammen und Aufschürfungen an ihren Armen. Wohin? Sie wusste es nicht. Sie stand einfach da, mitten auf der breiten, menschenleeren Straße, und ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Was konnte sie tun? Nichts. Sie konnte nichts tun. Nur hier stehen. Hier stehen und darauf warten, dass jemand kam, der ihr den tödlichen Stoß versetzte. Alle tot. Sie keuchte. Wohin? Sie sah auf den Rhein. Still und glatt wie ein samtenes blaues Tuch war sein Wasser.
Jetzt nahm sie auch Schritte wahr. Wieder drehte sie sich um und hob das Messer, erneut zum Töten bereit. War das Wyland, der da auf sie zugeeilt kam? Oder spielten ihr ihre Sinne einen Streich, und es war ein anderer Mann, ein anderer Christ? Ja, er wollte sie töten. Sie riss den Arm hoch und stürmte ihm mit einem kehligen Schrei entgegen.
»Esther!«, rief er, noch bevor sie ihn erreicht hatte.
Doch ohne in der Bewegung zu stoppen, hielt sie weiter auf ihn zu. Erst im letzten Moment machte er einen Schritt zur Seite und wich ihrem Angriff aus.
»Esther, erkennst du mich denn nicht? So komm doch wieder zu dir!« Noch einmal wich er ihr aus, drehte sich dabei aber so, dass er hinter ihr zum Stehen kam. Er packte ihr Handgelenk und schüttelte es so lange, bis sie die Klinge fallen ließ. Dann umschlang er sie so fest, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Sie versuchte verzweifelt sich zu befreien. Doch er hielt sie weiter fest an sich gedrückt, bis sie schließlich aufgab, ihr Körper erschlaffte und er seinen Griff wieder zu lockern wagte. Dann suchte er ihren Blick und sagte sanft: »Bitte, Esther, sieh mich an! Erkennst du mich denn nicht?«
Ja, jetzt erkannte sie ihn. Wyland! Sie wollte ihm antworten, etwas sagen, doch da schwanden ihr die Sinne, und lautlos glitt sie zu Boden.
Waren nur wenige Augenblicke oder Stunden vergangen? Sie konnte es nicht sagen, als sie erwachte. Jemand hatte sie auf eine Pritsche gelegt und mit einem wollenen Tuch zugedeckt. Der Raum, in dem sie sich befand, war so klein, dass außer der schlichten Bettstatt nichts in ihn hineinpasste. Die Bretterwände waren einfach und ohne jede Sorgfalt gezimmert, breite Spalten befanden sich zwischen den einzelnen Latten. Esther setzte sich auf. Ihr Kopf schmerzte. Hinzu kam Übelkeit, die ihr sauer in der Kehle aufstieg und gegen die sie anzuschlucken versuchte. Vorsichtig schwang sie die Beine von der Pritsche auf den Boden und lehnte sich entkräftet mit dem Rücken an die Bretterwand. Der Boden unter ihr schwankte. Sie überlegte kurz sich wieder hinzulegen. Doch dann zwang sie sich dazu aufzustehen. Vorsichtig erhob sie sich, doch sofort wurde das Schwanken unter ihren Füßen stärker. Schnell setzte sie sich wieder, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und es einen Augenblick später erneut zu versuchen. Diesmal ging es. Zaghaft machte sie zwei Schritte bis zur Tür und öffnete sie. Direkt vor ihr führte eine kleine Treppe nach oben, die sie Stufe für Stufe erklomm. Die einzige Lichtquelle waren die Ritzen um die Luke herum, die sich am oberen Ende der Treppe befand. Sie war gefangen, schoss es ihr durch den Kopf, merkte dann aber, dass sie die Klappe leicht und einfach anheben konnte. Esther lugte durch den Spalt und blickte direkt auf zwei große schwarze Stiefel. Der Mann, der darin steckte, war von ihrem Standort aus nicht zu erkennen. Da wurde die Klappe, die sie über ihrem Kopf leicht geöffnet hatte, auf einmal von der anderen Seite her angehoben.
»Du bist aufgewacht. Das ist gut. Komm herauf zu uns.«
Sie erkannte Wylands Stimme sofort. Und dann war die Erinnerung an alles, was ihr widerfahren war, wieder zurück. Dass sie das Gemetzel im Judenviertel nicht nur geträumt hatte, war ihr schon nach dem Aufwachen bewusst geworden. Denn das Kleid, das sie trug, war über und über mit Blut befleckt. Doch jetzt konnte sie sich auch an das erinnern, was danach geschehen war.
Vorsichtig kletterte sie aus der Luke und nahm dabei dankbar die ihr dargereichte Hand zu Hilfe. »Danke.«
Nun erkannte sie auch, was es mit dem Schwanken des Bodens auf sich hatte. Sie war auf einem Schiff, nein, eher einem Boot, das ruhig stromabwärts trieb. Am Heck des Bootes stand ein Mann, der eine ins Wasser getauchte Holzstange mit gleichmäßigen Bewegungen hin und her führte. Er nickte ihr kurz zu, als ihre Blicke sich trafen, und sah dann sogleich wieder über sie hinweg auf das
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