Die Duftnäherin
letztes Mal in den großen Saal und beobachtete, wie Bruder Adolfus die Fackeln entzündete. Noch bevor die Sonne am Horizont aufging, wollte Anna den Weg entlang der Weser erreicht haben. Selbst wenn sie sich viel Zeit ließe, würde sie spätestens übermorgen durch das Bremer Stadttor schreiten können. Dann, so hoffte sie, würde sich der eiserne Gurt, der sich seit dem Abschied von Gawin fest um ihr Herz gelegt hatte, vielleicht ein wenig lösen.
Als die Mönche das Morgengebet beendeten und Anna gerade heimlich durch das Klostertor huschen wollte, legte sich plötzlich eine schwere Pranke auf ihre Schulter.
»Nicht so schnell, Kleine«, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Zögernd drehte sie sich um. »Ich wollte nur …«
»Du wolltest dich davonmachen«, gab er mit einem unangenehmen Grinsen zurück. »Doch welche brave Schwester wird denn ihren Bruder allein zurücklassen?«
Er packte sie an den Haaren und zerrte sie wieder in den Klosterhof hinein. Tränen stiegen in ihre Augen, die Arkadengänge begannen, vor ihr zu verschwimmen. Grob zog er sie hinter sich her, ohne auf ihr Jammern und Wehklagen zu achten. Gang um Gang schleppte er sie mit sich in einen Teil des Klosters, den sie nie zuvor betreten hatte. Wie ein Labyrinth erschienen ihr die vielen Treppen und Gänge. Hier war kein Mönch mehr, kein Leben. Alles war still und unbewohnt. Polternd öffnete er eine Holztür, hinter der eine Treppe steil nach unten führte. Modrig feuchter Geruch schlug Anna entgegen, es war kalt und klamm. Er stieß sie die Stufen hinab und weiter an Weinfässern vorbei bis zu einem rund gemauerten Raum, in dem sich zwei nebeneinanderliegende Zellen aus Eisenstäben mit Eisenscharnieren an den Türen befanden. Mit einem harten Stoß schubste er Anna hinein, die mit einem Aufschrei zu Boden ging.
»Hier bleibst du erst mal, mein Täubchen, bis wir wissen, was wir mit dir machen.« Die Tür fiel schwer ins Schloss, das Quietschen des Beschlags war zu hören. Seine Schritte entfernten sich. Eher erstaunt als verzweifelt blickte Anna Bruder Hermannus nach, der sich mit schnellen Schritten entfernte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie eine Gefangene war.
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10 . Kapitel
I n eine fremde Stadt zu kommen war für Margrite stets, als könnte ihr Leben hierdurch eine ganz neue, ungewohnte Wendung nehmen. Zwar erwartete sie dies nicht wirklich, doch die Möglichkeit, ihrem bisherigen Dasein zu entfliehen und einer Zeit entgegenzusehen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten zu stellen vermochte, hielt sie durchaus für gegeben. Die Sehnsucht, eines Tages das zu finden, was sie seit ihrem frühen Verlust wiederzuerlangen suchte, schob sie beiseite, so gut es eben ging. Manchmal, während der Nacht, wenn ihre Gedanken an Kraft verloren und die Gefühle übermächtig wurden, wünschte sie sich in die alte Heimat zurück. Wie sehr sie diese Träume hasste. Das Gefühl, aufzuwachen und zu wissen, dass es nie wieder so sein würde, zerfraß ihr Herz und ihren Verstand. Tief in ihrer Seele lag all das begraben, was sie so sehr liebte. Mit dem Verlust hatte sie umzugehen gelernt, nie jedoch mit der Hoffnung, dass es eines Tages wieder so sein könnte, wie es einst gewesen war. Auch deshalb liebte sie fremde Orte. Nichts erinnerte dort an das Vergangene. Dort gab es nur das Künftige, ganz gleich ob gut oder schlecht.
Bereits ein gutes Stück vor den Stadttoren hatte sie Binhildis aufgefordert, ihre Hurenbänder abzulegen. Stattdessen sollte sie das Kleid, das sie trug, mit einem Lederband enger zusammenziehen und dadurch einen weniger großzügigen Blick auf ihre Brüste gewähren. Mit den Jahren hatte Margrite gelernt, dass es ihr zum Vorteil gereichte, wenn eine Seifensiederin und Händlerin, wie sie es war, nicht unmittelbar mit den Huren in Zusammenhang gebracht wurde, die ihr dafür, dass sie sich der Gruppe während der Reise anschließen durften, einen Teil ihrer Einnahmen abgaben. Beim Durchqueren des Stadttors zwinkerte sie einem der Wachmänner zu, was dieser mit einem schiefen Grinsen quittierte.
»Ich glaube, hier wird’s mir gefallen, Anderlin«, sagte Margrite laut. Der Soldat musterte sie, verstand ihre Bemerkung als Anspielung auf sich und machte keine Anstalten, die kleine Gruppe aufzuhalten. Margrite kannte das schon. Je unbeschwerter sie und ihre Begleiter mit den Torwachen umgingen, desto weniger Scherereien hatten sie zu erwarten. Und sich ins rechte Licht zu rücken hatte sie über die Jahre hinweg
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