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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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Verwandtschaft hatte sie zwischenzeitlich so verinnerlicht, dass ihr tatsächlich so war, als würde sie sich von ihrem Bruder verabschieden müssen.
    »Du hast recht«, sagte sie leise. »Solch eine Gelegenheit bietet sich dir nur einmal. Deshalb solltest du sie ergreifen.« Ein leiser Hoffnungsschimmer keimte in Gawin auf.
    »Doch«, führte Anna ihre Rede fort, »ist es nicht der Weg, den ich gehen werde.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Fertige deine Madonna, Gawin, und lass dich von niemandem dabei aufhalten. Du tust das Richtige. Aber ich«, sie zögerte kurz, »ich werde gehen und meinen eigenen Weg suchen.«
    Ihm war, als hätte sie ihm einen Schlag in die Magengrube verpasst.
    »Aber«, wandte er stockend ein, »du bist meine Schwester. Du kannst doch nicht einfach so ohne mich weggehen.«
    »Das bin ich nicht, und du weißt es.« Zärtlich strich sie mit der Hand über seine Wange.
    Er nickte, während sich seine Augen mit Tränen füllten. »Aber es fühlt sich so an.«
    Auch Anna kämpfte mit den Tränen. »Ich weiß. Aber es geht nicht anders. In drei Tagen werde ich gehen, Gawin.« Er wollte tapfer sein, konnte jedoch nur schwer ein Schluchzen unterdrücken.
    »Werden wir uns wiedersehen?«
    Anna versuchte zu lächeln. »Ganz bestimmt. Baue du in Ruhe dein Kunstwerk. Ich werde bis Bremen ziehen und dort auf dich warten.«
    »Und wenn es mehrere Jahre dauert?«
    »Dann werde ich dort eben mehrere Jahre auf dich warten.«
    Gawin kaute auf seiner Unterlippe, dann sprang er plötzlich auf. »Ich gehe jetzt an die Arbeit. Es gibt viel zu tun.« Mit diesen Worten ging er zur Tür und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.

    Drei Tage später hatte Anna die für Gawin neu gefertigten Kleider, zu einem Stapel geordnet, auf den Stuhl gelegt, die Mönchskutten fein säuberlich auf dem Tisch aufgeschichtet und ihre eigenen Sachen in einem kleinen Sack verstaut, den sie in der Ecke aufbewahrte. Eine kurze Umarmung war die einzige Geste, die sie sich zum Abschied erlaubten, bevor sich Gawin am Morgen wieder seiner Arbeit widmete. Sie hatten abgesprochen, Annas Weggang weder Bruder Hermannus noch dem Prior anzukündigen, um auf diese Weise alle Schwierigkeiten, die sich dadurch vielleicht für sie ergeben mochten, zu vermeiden. Stattdessen waren sie übereingekommen, dass Gawin erst am nächsten Tag im Kloster berichten sollte, Anna habe sich offenbar heimlich auf und davon gemacht. Sie wollte stark sein, doch die Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie ihn an sich drückte. Die Angst, ihn vielleicht nie wiederzusehen, ließ sie leise schluchzen. Sie hatte bislang nur ein einziges Mal in ihrem Leben einen solchen Abschiedsschmerz empfunden. Das war gewesen, als Gerhild ihr erklärt hatte, wessen Beerdigung sie vor wenigen Tagen beigewohnt hatte und dass ihre Mutter nie wiederkäme. Und nun war ihr dieser Junge, den sie nur einige Wochen kannte, wie ein eigener Bruder ans Herz gewachsen. Gawin ging es mit seinen Gefühlen für sie nicht anders. Anna, so kurz er sie auch kannte, war seine ganze Familie und der Schmerz über ihren Verlust so tief, dass er wie gelähmt war. So viele Jahre hatte er allein im Wald gelebt und nur dann Menschen getroffen, wenn er sich zum nächsten Dorf aufgemacht hatte, um dort einige seiner Schnitzereien zu verkaufen. Ein Tag war für ihn wie der andere gewesen. Erst als Anna in sein Leben getreten war, hatte sich dies geändert. Manchmal, wenn er in letzter Zeit aus einem Alptraum hochgeschreckt war, der ihn in die Einsamkeit des Waldes zurückgeführt hatte, war er von seiner Pritsche aufgestanden und hatte Annas Haar berührt. Er musste einfach fühlen, dass sie da und er der Einsamkeit seiner Höhle entkommen war. Sobald er sie spürte, ging es ihm besser, seine Atmung beruhigte sich, und er legte sich wieder hin. Was sollte nun werden, wenn sie fortging und ihn zurückließ?
    »Ich werde dir folgen, sobald die Statue fertig ist«, brachte er mühsam hervor.
    »Und ich werde in Bremen auf dich warten und so lange nicht fortziehen, bis du mich gefunden hast.«
    »Leb wohl!« Er strich ihr über das Haar, das ihren Kopf wie ein goldenes Seidentuch umspielte. Vorsichtig näherte er sich ihrem Gesicht, küsste sie auf die Wange und sog noch einmal ihren Duft ein. Dann löste er sich mit einem Ruck von ihr, öffnete die Tür und ging hinaus.
    »Leb wohl«, hauchte Anna, ohne dass er es noch hören konnte. Dann verhüllte sie ihre Haare mit einem schwarzen Tuch, ging ein

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