Die Duftnäherin
er sie wieder schlecht behandelte. Und Anna war auch nicht entgangen, dass der Wirt selbst Helme immer wieder warnende Blicke zuwarf, wenn sie einander begegneten. Aber Anna kannte ihren Vater zu gut, um zu glauben, dass seine Zurückhaltung ewig anhalten würde. Und weder Gerhild noch ihr Mann würden immer zur Stelle sein können, um sie vor ihm zu beschützen. Denn eines hatte sie immer gewusst: Für Helme war es wie bei der Jagd. Wenn er seine Beute lange genug verfolgt hatte, würde er sie erlegen wollen, und kein Mensch der Welt konnte sie dann vor seinem Todesstoß retten. Es waren glückliche Umstände gewesen, vielleicht sogar eine Handreichung Gottes selbst, die dazu geführt hatten, dass er wegen seiner Schulden abgeführt worden war. Man legte sich eben nicht mit dem Grafen an, dachte Anna spöttisch, wenngleich ihr dieser Fehler ihres Vaters die Flucht ermöglicht hatte. Aber was hatte ihr die genutzt? Letztendlich nichts, denn wieder war sie in einem Gefängnis, und wieder ohne Grund. Zumindest wusste sie nicht, weshalb sie hier eingesperrt worden war. Anna lauschte. Sie vernahm das Knarren einer Tür, dann das Geräusch von Sandalen, die die Treppenstufen hinabkamen. Einer der Mönche kam zu ihr. Beunruhigt traute sie sich kaum zu atmen. Sie hörte ein Plätschern, Schritte, dann wieder das Geräusch der Sandalen auf der Treppe. Der Mönch entfernte sich. Eilig rüttelte sie an den Eisenstäben ihres Gefängnisses.
»Ich bin hier! Holt mich hier raus!«
Sie brüllte aus Leibeskräften. Doch das Sandalengeräusch war nicht mehr zu hören. Ein leises Knarren, die Tür am Ende der Treppe wurde wieder ins Schloss gedrückt. Bitter stieg die Erkenntnis in ihr auf, dass der Mönch nur gekommen war, um Wein zu holen. Zwar musste er sie gehört haben. Doch er hatte ihr Rufen einfach ignoriert. Im Kloster wusste man also, dass sie hier gefangen gehalten wurde, aber es schien niemanden zu stören. Sie seufzte tief, setzte sich auf die kleine Pritsche, zog die Beine an und umfasste sie mit ihren Armen. Vor und zurück bewegte sie sich wie zu einer Melodie, die nur sie hören konnte. So hatte sie es schon als Kind gemacht. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie tagelang so dagesessen, ihren Körper vor- und zurückbewegt und sich so zur Ruhe gebracht. Schon damals war ihr immer wieder die Frage nach dem Warum durch den Kopf gegangen: Warum war ihre Mutter gestorben, warum hatte Gott nichts unternommen, warum hatte ihr der Herr seine schützende Hand entzogen? Doch als sie nun so dasaß und darüber nachdachte, drängte sich zum ersten Mal auch eine andere Frage in ihr Bewusstsein: Woran? Woran war ihre Mutter gestorben? Sie war noch keine dreißig Jahre alt gewesen, eher kaum über die zwanzig hinaus. Zwar hatte sie all die Jahre über hart arbeiten müssen, doch Anna kannte Frauen, die das gleiche Leben wie ihre Mutter führten und dennoch über dreißig, manchmal sogar vierzig Jahre waren. Eigenartig, dass sie sich diese Frage noch nie zuvor gestellt hatte.
»Wie kommst du voran, mein Sohn?«
Gawin blickte nicht auf, sondern fuhr in vorsichtigen, kurzen Bewegungen mit einer breiten Klinge über das Holz, aus dem sich bereits sichtbar der Körperumriss einer Frau in einem langen Gewand herauszuschälen begann.
»Wie Ihr seht, Vater, sehr gut. Eine Schwierigkeit liegt nur noch in den Armen. Ich werde sehr vorsichtig an ihnen arbeiten müssen, um nicht die gesamte Figur zu ruinieren.«
Er ließ das Werkzeug sinken und betrachtete den Holzstamm, aus dem einmal eine anbetungswürdige Madonna entstehen sollte. Fast zärtlich berührte er den oberen Teil, aus dem er das Gesicht fertigen würde.
»Sie wird wunderschön, ich habe bereits vor Augen, wie sie aussehen wird. Ihr werdet zufrieden mit mir sein.«
»Hüte dich vor den Anfängen des Hochmuts, mein Sohn!«, bemerkte der Prior streng. »Ich werde glücklich darüber sein zu sehen, wie der Herr deine Hand bei der Schaffung dieses Kunstwerks zu führen verstanden hat.«
Gawin blickte demütig zu Boden. »Selbstverständlich, Vater, verzeiht.«
Das Gesicht des Priors entspannte sich und nahm einen milden Ausdruck an. »Setze nun dein Werk fort. Ich will dich nicht weiter stören.«
Mit diesen Worten hob er die Kutte ein wenig an und ging mit schnellen Schritten davon.
Gawin widmete sich wieder seiner Holzfigur, doch mit seinen Gedanken war er bei Anna. Ob sie das nächste Dorf, womöglich schon die nächste Stadt erreicht hatte? Er sah sie vor sich, wie sie
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