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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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aufeinandergepresst.
    »Von dir weiß ich ja auch nicht viel«, entgegnete sie trotzig.
    Gawin zuckte mit den Schultern. »Wenn du etwas wissen willst, dann frag.«
    Und als sie weiterhin nichts sagte, meinte er: »Es wäre klug, wenn wir uns unsere gemeinsame Geschichte noch einmal ganz genau zurechtlegen würden, nachdem uns diesbezüglich schon ein grober Schnitzer unterlaufen ist. Schließlich soll man uns für Geschwister halten. Da sollten wir auf die wichtigsten Fragen doch dasselbe antworten können.«
    »Also gut«, meinte Anna. »Was wollen wir also sagen?«
    »Zunächst einmal müssen wir festlegen, wo wir aufgewachsen sind.«
    Anna überlegte, welche Orte sie außer Lünen noch ganz gut kannte, denn sie wollte unter keinen Umständen die Wahrheit sagen. Aber was wäre, wenn sie ausgerechnet eine Stadt nannte, aus der ihr Gegenüber stammte? Ihre Flunkerei wäre damit sofort aufgedeckt. Ratlos sah sie Gawin an.
    »Woher kommst du denn?«
    »Hab ich dir doch bereits gesagt. Damals, im Wald, weißt du nicht mehr? Ich war auf einem Schiff zu Hause.«
    »Ich meine davor. Bevor du auf dem Schiff warst. Du hast mir seinerzeit gesagt, dass ein Freund deiner Eltern dich nach ihrem Tod mit zu sich aufs Schiff genommen hat. Aber davor, wo hast du davor mit deinen Eltern gelebt?«
    Gawin zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr.«
    Anna seufzte. »In Ordnung. Dann werden wir einfach sagen, dass wir aus einem kleinen Dorf in der Nähe von … Konstanz, was hältst du von Konstanz, kommen?«
    »Wo liegt denn das?«
    »Irgendwo in der entgegengesetzten Richtung von hier.«
    Gawin hob die Augenbrauen. »Meinst du, dass wir damit durchkommen?« Er wies mit dem Arm den Weg entlang, den sie gekommen waren. »Wenn wir sagen, dass wir von irgendwo aus dieser Richtung kommen?«
    Anna kaute auf ihrer Unterlippe. Gawin hatte recht.
    »Also gut, was hältst du davon, wenn wir einfach sagen, dass wir in einem kleinen Dorf in der Nähe des Rheins geboren wurden, dort aber nie gelebt haben, weil unsere Eltern Händler und ständig mit uns unterwegs waren. Und wir uns, seitdem sie an der Pest gestorben sind, allein durchgeschlagen haben. Dann wird man uns sicher nicht weiter ausfragen.«
    Gawin nickte. »Gefällt mir gut. Das könnte klappen. Aber wir sollten uns auch gemeinsame Erinnerungen und Erlebnisse überlegen. Eben alles, was Geschwister so voneinander wissen.«
    »Wir sollten weitergehen«, schlug Anna vor und stand auf. »Und unterwegs werde ich dir so viele Geschichten über unsere gemeinsame Kindheit erzählen, dass du mich für die liebste Schwester auf der Welt hältst.«
    »Oder du mich für den besten Bruder, den du dir nur wünschen kannst.«
    Sie lachten ausgelassen.
    Anna beschattete mit der Hand ihre Augen und blickte den Weg entlang, der vor ihnen lag.
    »Ich will es nicht beschwören, aber wenn wir weiter in diese Richtung gehen und nicht mehr rasten, müssten wir noch vor Einbruch der Dämmerung an die Stadtmauern Bremens gelangen.«
    In ihrer Stimme lag freudige Erwartung. Gawin hingegen hatte gemischte Gefühle. Anna schien sich ihrer Sache sehr sicher, während er weit weniger zuversichtlich war. Was würde sie in der fremden Stadt erwarten? Sie besaßen überhaupt kein Geld, und ihre Wegzehrung würde bereits morgen aufgebraucht sein. Er raffte die Reste ihres Essens zusammen und schnürte das Tuch wieder zu einem Bündel.
    »Was werden wir tun, wenn wir in der Stadt ankommen?«, fragte er vorsichtig.
    Anna schien bester Laune zu sein. »Als Erstes suchen wir uns Arbeit«, meinte sie. »Oder nein«, korrigierte sie sich schnell. »Zuallererst gehen wir zum Dom.«
    »Und was wollen wir da?«
    »Ihn berühren«, antwortete sie sofort, als könne es nichts Wichtigeres geben.
    Gawin zog die Stirn kraus und betrachtete Anna nachdenklich, während sie ihren Weg fortsetzten. Was konnte sie damit bezwecken wollen, das Gotteshaus zu berühren? Er hatte das Gefühl, sie immer weniger zu verstehen. War sie etwa verrückt? Und hatte Bruder Hermannus sie vielleicht deshalb im Keller eingesperrt? Im Kloster war ihm das erste und vielleicht einzige Mal in seinem Leben die Aufgabe übertragen worden, eine Madonna von unvergleichlicher Schönheit anzufertigen. Nie zuvor hatte ihm jemand eine solche Arbeit zugetraut. Was wäre, wenn er dies alles nur dafür aufgegeben hätte, eine Frau zu befreien, die nicht ganz klar im Kopf war? Die Sorge legte sich wie ein dunkler Schatten auf sein Gemüt und verstärkte mit

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