Die Duftnäherin
jedem weiteren Schritt das Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben.
Schweigend gingen sie weiter. Doch während Annas Schritte leicht und unbeschwert waren, trottete Gawin wie ein geprügelter Hund neben ihr her. Er sah es vor sich, das Leben, das ihn in Bremen erwartete. Es war das gleiche, von dem er nur wenige Wochen zuvor geglaubt hatte, es für immer hinter sich gelassen zu haben. Wieder würde er stehlen und sich das Essen zusammenklauben müssen. Keine Arbeit und auch nichts anderes haben, woran er glauben konnte. All dies stand ihm so klar vor Augen, als ob es bereits eingetreten wäre. Da hatte ihm der Herr mit der Anfertigung einer Heiligen die Hand geboten, dank der er sich ihm weiter annähern könnte – und nun das! Schon meinte er, seinen Körper im drohenden Fegefeuer der Hölle brennen zu sehen und den Geruch verbrannter Haut zu riechen.
»Was hast du?«
Gawin machte einen Satz, so sehr erschrak er sich bei ihren Worten.
»Du bist weiß wie ein Leichentuch«, stellte Anna besorgt fest. »Ist dir nicht gut?«
»Ich hab, ich meine …«, stammelte er.
Sie blieb stehen. »Was denn?«
»Warum wurdest du von Bruder Hermannus in den Keller gesperrt?«
Langsam setzte Anna sich wieder in Bewegung. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Gawin ging weiter stumm neben ihr her, während sie den Blick starr auf den Pfad vor sich gerichtet hielt. Sie spürte, dass er sie immer wieder von der Seite ansah. Offenbar wartete er auf eine Erklärung von ihr. Doch was sollte sie ihm sagen?
»Ich kann dir nur sagen, was geschehen ist«, erklärte sie. »Aber das Warum …« Sie zuckte mit den Schultern.
Dann berichtete sie ihm, wie sie unbemerkt aus dem Kloster hatte huschen wollen und Bruder Hermannus sie grob daran gehindert und ohne jede weitere Erklärung eingesperrt hatte.
»Und Bruder Adolfus? Weshalb hat er dir geholfen?«
Sie hob die Hände und bedeutete ihm, auch darauf keine Antwort zu wissen. »Ich denke, er hat erkannt, dass ich zu Unrecht eingesperrt worden bin. Eine andere Erklärung habe ich nicht.«
Gawins Gedanken schwirrten wie ein wilder Schwarm Bienen durch seinen Kopf. Hatte sie ihm die Wahrheit gesagt?
Anna betrachtete versonnen die Gegend. Die Ernte auf den Feldern war noch nicht eingebracht worden. Daheim in der Schänke hatte sie die Leute darüber reden hören, dass das große Sterben bald auch ihre Gegend erreichen würde. Brach die Seuche nicht mehr vor dem Winter aus, standen die Aussichten, sie zu überleben, etwas besser. Lag Schnee über einem Dorf, scheute die Pest den Ort, weil sie, so erzählte man sich, selbst schwarz wie ein Dämon, vor der Reinheit zurückwich. Anna wusste nicht, ob dies der Wahrheit entsprach. Aber sie hielt es für möglich. Dass Engel im weißen Gewand den Teufel schreckten, wusste sie zumindest, seitdem sie klein war. Doch konnte sie sich das große Sterben nicht wie einen dunklen Körper vorstellen, eher wie eine breite, zähe Flüssigkeit, die sich klebrig über ihre Opfer ergoss. Dass jedoch der Teufel die Pest hervorgebracht hatte, davon war auch sie überzeugt.
Anna schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, weshalb sie gerade jetzt an die schreckliche Seuche denken musste. Bremen lag nochmals ein gutes Stück von Lünen entfernt. Vielleicht würde die Krankheit gar nicht bis dorthin kommen.
Sie zog ihren Umhang fester um die Schultern. Schüchtern sah sie zu Gawin, der ohne jede Gefühlsregung neben ihr des Weges ging. Warum war er nur so zögerlich? Noch vor wenigen Wochen hatte er sich damit abgefunden gehabt, wie ein Wilder im Wald zu leben. Es war seine Entscheidung gewesen, sich ihr anzuschließen. Dennoch hatte sie kurz zuvor den seinerseits unausgesprochenen Vorwurf herauszuhören geglaubt, dass sie selbst die Schuld an ihrer Gefangenschaft trug. Misstrauen hatte in seiner Stimme gelegen.
Die Wolken zogen sich bedrohlich über ihnen zusammen, und in der Ferne war bereits ein erstes Donnergrollen zu hören.
»Wir sollten uns eilen, damit wir nicht völlig durchnässt sind, wenn wir Bremen erreichen«, drängte Anna.
Gawins Antwort war nicht mehr als ein Grunzen, und Anna verspürte keine Lust, erneut in ihn zu dringen, um zu erfahren, was ihn beunruhigte.
Sie beschleunigte ihren Schritt, merkte aber schon bald, dass Gawin hinter ihr zurückfiel.
»Kannst du oder willst du nicht schneller gehen?« Ihre Stimme klang gereizt, und sie mühte sich nicht, dies zu verbergen.
Gawin blieb stehen und musterte sie. Die junge Frau
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