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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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gewiss: Er würde sie nicht mehr auf ihren Vater ansprechen.
    Hastig schritten sie die Straße entlang und wichen dabei immer wieder wahren Strömen von Menschen aus, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegten. Ob hier immer so ein Gedränge herrschte? Gawin hatte einen solchen Andrang noch nie erlebt, und die vielen Menschen ängstigten ihn. Sein Herz pochte heftig, und für einen kurzen Moment wünschte er sich wieder in die Stille und Einsamkeit seiner Waldhöhle zurück. Dort kannte er sich aus, jeder Baum und Strauch war ihm vertraut. Hörte er ein Geräusch, konnte er es sofort zuordnen. Doch hier, zwischen all den Leuten, fühlte er sich mit jedem Schritt unsicherer. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass heute vielleicht Markt oder gar ein großes Fest war, auf das die Menschen sich vorbereiteten. Dass hier immer eine derartige Geschäftigkeit herrschte, konnte er sich kaum vorstellen. Er hatte Mühe, Anna an der Hand zu behalten, bei all den vielen Leuten, die ihn in die verschiedensten Richtungen schoben. Da blieb Anna so plötzlich stehen, dass Gawin prompt in sie hineinlief.
    »Was machst du?«, fragte er überrascht.
    »Da ist er«, antwortete sie ergriffen.
    Gawin folgte ihrem Blick und sah zu dem gewaltigen Bauwerk hinauf, dessen Dimensionen ihn noch mehr erschreckten als die Menge Menschen zuvor.
    »Komm!« Sofort lief Anna los, ohne weiter auf ihn zu achten, und blieb erst wieder stehen, als ihre beiden Hände den kalten Stein des Gotteshauses berührten.
    »Du musst ihn fühlen«, beschwor sie Gawin. »Hier, so. Du musst die Finger spreizen und beide Hände auf ihn legen.«
    Er verzog etwas unwillig das Gesicht, tat aber trotzdem wie ihm geheißen.
    Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Außenmauer des Doms und verharrte so einen Moment völlig still und unbeweglich. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Ihr ganzes Leben, gab sie sich selbst zur Antwort. Tief in ihrem Innern hatte sie stets gespürt, dass Bremen ihr einziges, wirkliches Zuhause war, ohne jemals auch nur einen Tag in dieser Stadt gewesen zu sein. Der Grund dafür waren wohl die Geschichten ihrer Mutter, die jene in Erinnerung an ihre eigenen Kindheitstage immer wieder erzählt hatte. Geschichten von den Straßen Bremens, die von den Stadtoberen sauberer gehalten wurden als in sonst einem Ort. Vom Hafen mit seinen Anlegestellen, von den beladenen Schiffen aus aller Herren Länder, die neben Stoffen, Gewürzen und edlen Weinen auch Gold und Edelsteine ins Land brachten. Vom Dom, in dem der Herr selbst wohnen musste und den er lächelnd und mit Wohlwollen den Bürgern dieser Stadt überlassen hatte, damit sie dort zu ihm beten konnten. Katharinas Erzählungen hatten für Anna immer abenteuerlich geklungen. All die ausgelassenen, fröhlichen und geschäftstüchtigen Menschen dieser Stadt, die in ihrem Streben nach Freiheit und Glück unbeirrt ihren Weg gingen. Anna liebte die Geschichte der kleinen gemauerten Dom-Maus, die sich an der rechten Seitenwand am Fuße eines Rundportals befand. Die beiden Rundbogenportale an den Seitenwänden waren ursprünglich Eingänge an der alten Westfront des Domes zum Marktplatz hin gewesen. Man hatte sie um 1220 , als die Westfront mit zwei Türmen neu errichtet worden war, nach innen in den Ostchor versetzt, um den Dom an dieser Stelle um zusätzliche Anbauten erweitern zu können.
    Die Maus, gemeinhin ein Symbol für Hexen und Teufel, sollte das Böse am Betreten der Kirche hindern.
    »Wir müssen die Maus suchen«, entfuhr es Anna.
    »Die was?«
    Übermütig ergriff sie seine Hand und zog ihn mit sich um das Gebäude herum, bis sie den Marktplatz erreichten. Ihr Blick fiel auf eine Gruppe von Pilgern, die soeben einem Kirchenmann Münzen in die Hand drückten, um den Dom zur Beichte betreten zu dürfen. »Rasch«, raunte Anna Gawin zu und lief los. Unauffällig mischten sie sich unter die Gruppe, die sich soeben Richtung Dom in Bewegung gesetzt hatte. Kurz darauf betraten sie auch schon das riesige Gebäude, in dessen Innerem sich noch weitere Gläubige schweigend und andächtig im Gespräch mit ihrem Gott befanden. Anna griff erneut nach Gawins Hand, löste sich mit ihm zusammen wieder aus der Gruppe heraus und ging, gemäßigten Schrittes und den Blick nach oben gerichtet, den Seitengang entlang.
    »Hast du schon einmal ein so wunderschönes Bauwerk gesehen?«, wollte sie wissen. Gawin schüttelte ganz ergriffen den Kopf. Noch nie zuvor war er in einem Dom

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