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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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wie er nur konnte, die Angst, trotzdem zu spät zu kommen, hatte ihn angetrieben.
    »Ihr müsst kommen!« Der Bursche beugte sich nach vorn und stützte keuchend seine Hände auf die Knie. »Am Dom! Dort werden Menschen geschlachtet!«
    Einige der hochgestellten Männer sprangen von ihren Sitzplätzen auf. Mit wenigen schnellen Schritten war Wyland Gross bei dem Boten und fasste ihn an beiden Schultern. »Was redest du da, Junge?«
    »Ihr müsst kommen!«, wiederholte dieser. »Schnell!«
    Eine Sekunde der Starre, dann eilten nach den amtierenden Bürgermeistern Johann Overstolz von Efferen und Eberhard Hardevust auch die anderen Ratsherren aus dem Raum. Das Rathaus schien unter ihren Schritten zu erbeben. Wie eine wild gewordene Horde stürzten sie die Treppenstufen hinab und auf die Straße hinaus. Tatsächlich stieg eine Rauchsäule in der Nähe des Doms auf. Nackte Angst packte Wyland und legte sich mit eisernen Klammern immer enger um seine Brust. Je näher er dem Dom kam, desto furchtbarer wurde der Gestank. Der Geruch von verbrannter Haut lag in der Luft. Sein Hals war rauh, ob aus Angst oder wegen des Rauchs, der in dicken Schwaden durch die Gassen zog, wusste er nicht zu sagen. So schnell er es vermochte, hetzte er durch die Straßen bis zum Dom. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge, die wie er in dieselbe Richtung strömte. Eine Mischung aus Furcht und Schaulust lag in der Luft. Als er in Sichtweite des Kirchenhauses war, versuchte er sich ein Bild von dem Wahnsinn zu machen, der sich seinen Augen bot.
    Auf dem Platz vor dem Dom war eine Art Scheiterhaufen errichtet worden, der lichterloh brannte. Zwei blutüberströmte Männer liefen mit nacktem Oberkörper laut schreiend um das Feuer, dessen Flammen mehrere Ellen hochschlugen. Eine geifernde Alte hielt drei Lämmer an einem Seil, die sich blökend gegen den Strick wehrten. Von einem abgeschlagenen Baumstumpf, der als Podest diente, rief ein völlig entblößter Mann den geschockten Bürgern Worte zu, mit denen er sie zur geistigen Umkehr aufforderte.
    »Sie wollen eure Seelen stehlen, um sie den Dämonen zum Fraß vorzuwerfen!«
    In den Gesichtern der Menschen spiegelten sich Abscheu und Angst, aber auch die Faszination angesichts des Unbeschreiblichen, das sich ihnen darbot. In banger Erwartung dessen, was sie noch alles zu sehen bekämen, blieben sie wie angewurzelt stehen, unfähig, sich von dem Treiben vor ihren Augen abzuwenden.
    Wyland versuchte zu erkennen, ob jemand verletzt oder gar ins Feuer geworfen worden war. Der blutüberströmte Schreier auf dem Holzstumpf zog aller Blicke auf sich, während die Männer, die wild kreischend um das Feuer rannten, nur am Rande wahrgenommen wurden.
    »Der Tag des Jüngsten Gerichts ist nah!« Der Nackte sprang gebückt von einem Bein aufs andere, bemüht, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sein Gesicht spiegelte die Qual eines gegeißelten, leidenden Mannes wider, der angsterfüllt darauf bedacht war, seine Zuhörer vor dem drohenden Unheil zu bewahren.
    »Holt den Kerl da runter!«, fuhr Wyland wütend einen der Büttel an, die ebenso erstaunt wie die Bürger dem Treiben zusahen.
    In diesem Moment packte die geifernde Alte eines der Lämmer, nahm es auf den Arm, sprang an das Feuer heran und warf das Tier lebendigen Leibes hinein.
    »Nehmt das, ihr Dämonen und Teufel, und lasst ab von den Kölnern!«
    Die Flammen schlugen über dem Tier zusammen. Ein einziges grauenvoll anzuhörendes Blöken drang den Umstehenden durch Mark und Bein, gefolgt von einem gellenden Ton, der in langgezogenes Wehgeschrei überging. Die alte Frau hatte klagend und flehend die Arme gen Himmel erhoben, als wünschte sie, vom Herrn selbst dort in Empfang genommen zu werden.
    Der beißende Geruch des flammenden Schaffells stieg empor. Einige Zuschauer schlugen sich die Hände vors Gesicht. Sei es, um die Dämpfe nicht einatmen zu müssen, oder einfach vor Entsetzen. Eine Frau, die vor Wyland stand, hatte zu weinen begonnen. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, nahm aber das heftige Zucken ihrer Schultern wahr. Er blickte sich um. Die anderen Ratsherren waren hinter ihm zum Stehen gekommen und betrachteten ebenso reglos wie die unbeteiligten Bürger das Geschehen vor der Kirche. Keiner von ihnen, nicht einmal die Bürgermeister, schien eingreifen zu wollen, viel zu bestürzt waren sie von dem Treiben.
    »Verdammt noch mal!«, schnauzte Wyland, dessen Angst mittlerweile der Wut gewichen war, den Büttel an. »Wenn du jetzt

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