Die Duftnäherin
wegzerrten und mit sich fortschleiften. Helme wandte sich Egidius zu.
»Heute Abend wird er wieder frei sein.«
»Früher schon.« Der Patrizier schien sich dessen sehr sicher. »Weil so viele Häuser wegen der großen Anzahl an Pestfällen im Fischerviertel leer stehen, hat es viele Plünderungen gegeben. Die Kerkermeister können ihre Pforten gar nicht so schnell öffnen und wieder schließen, wie neue Schurken nachkommen. Einer wie unser Freund da vorne bekommt einen kleinen Tritt von ihnen und kann danach wieder seiner Wege ziehen.«
»Damit haben wir den ersten Stein gelegt.« Helme rieb sich zufrieden die Hände. »Und? Wirst du bei der kleinen Vorstellung heute Nachmittag vor dem Dom auch zugegen sein?«
Egidius grinste. »Um diese Zeit werde ich mit den anderen im Rathaus sitzen und mit Bestürzung erfahren, was sich gerade vor unserem erhabenen Gotteshaus abspielt. Gewiss wird es ein heiteres Schauspiel werden.« Er verzog zufrieden den Mund. Und wieder einmal spürte Helme, wie froh er doch war, endlich seinen Bruder im Geiste gefunden zu haben.
Esther lag erschöpft auf ihrem Bett. Die Tränen, die ihr stundenlang über die Wangen gelaufen waren, hatten salzige Spuren auf ihrer Haut hinterlassen.
Gleich nachdem der Besuch ihres Vaters das Haus an diesem Morgen verlassen hatte, war sie zu ihm geeilt, um von dem Geschehen am Brunnen zu berichten. Auch dass der Patrizier Wyland Gross sie nach Hause gebracht und ihr dringlich geraten hatte, mit ihrem Vater zu sprechen, erzählte sie. Mit Bestürzung hatte sie über die bevorstehenden Gefahren und das Unheil berichtet, das die Christenmenschen erwartete, sollten sie nicht die Ungläubigen aus ihrer Mitte vertreiben. Worte wie Teufel und Dämonen wären dabei gefallen.
Ihre Verwunderung darüber, dass ihr Vater nicht ebenso betroffen und schockiert war wie sie selbst, konnte sie nicht verbergen.
»Mit diesen Ungläubigen«, hatte Benjamin ihr erklärt, »von denen die Rede ist, sind wir gemeint, mein Kind.« Seine Hand ruhte dabei auf ihrem Kopf und streichelte sanft über ihr Haar.
»Wie meinst du das? Wir sind doch nicht ungläubig! Wir sind die Kinder des Volkes Davids!« In ihrer Stimme schwang Stolz mit und eine gelebte Ehrlichkeit, die ihrem Vater Tränen in die Augen trieb.
»Ja, meine kleine Esther, wir sind die wahren Gläubigen. Und deshalb gefällt es Adonai auch von Zeit zu Zeit, uns zu prüfen, um zu sehen, ob wir seiner würdig sind.«
»Aber weiß Adonai das denn nicht?«, fragte sie überrascht. Sie konnte die letzten Worte ihres Vaters nicht nachvollziehen. Schließlich ließ sie nie ein Gebet aus und lebte zufrieden und mit Leidenschaft die Regeln ihres Glaubens. Weshalb sollte es ihrem Gott also gefallen, sie auf die Probe zu stellen?
»Das ist nicht so einfach«, hatte Benjamin ihr erklärt. »Wir werden noch ein anderes Mal in Ruhe darüber sprechen. Doch …«, er zögerte, bevor er weitersprach. »Doch wir sind hier in Köln nicht mehr sicher, mein Kind. Wir müssen fort.«
»Fort? Aber ich will nicht von hier weg. Hier sind alle …«
Weiter kam sie nicht, denn ihr Vater hob die Hand und gebot ihr zu schweigen.
»Wir werden darüber reden, aber nicht jetzt. Ich muss nun Vorbereitungen treffen, um unseren Haushalt aufzulösen.«
Esther hatte noch viele Fragen und Einwände, wusste jedoch, dass sie zu gehorchen hatte. Ihr Vater war kurz nach ihrem Gespräch aus dem Haus gegangen. Ob er schon zurück war, wusste sie nicht zu sagen. Sie jedenfalls war danach in einem Meer von Tränen eingeschlafen.
Nun setzte sie sich auf und blickte durch das Fenster. Sie blinzelte. Täuschte sie sich, oder stieg dort hinten tatsächlich eine Rauchsäule in den Himmel? Esther rieb sich die Augen und sah noch einmal genauer hin. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Sie hatte die Zeit für ihr Gebet verpasst. Sofort packte sie das schlechte Gewissen. Erst wenige Stunden zuvor hatte sie ihrem Vater versichert, eine gute Jüdin zu sein. Und nun enttäuschte sie Adonai durch ihr Versagen.
Seufzend erhob sie sich, holte ihren Gebetsschal, legte ihn über ihr Haar, ging in die Knie und betete leise und voller Inbrunst die Worte des Herrn. Mit Eifer bat und flehte sie, bis sie den salzigen Geschmack der Tränen spürte, die ihr wie schon einige Stunden zuvor über die Wangen liefen.
Der Junge, der keuchend die Tür des Ratssaales aufgestoßen hatte, konnte sein Anliegen kaum vorbringen, so sehr war er außer Atem. Er war so schnell gerannt,
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