Die Dunkelheit in den Bergen
leichte Übelkeit einsetzte, was immer geschah, wenn er vor lauter Umtrieben das Essen und Trinken auf später verschob oder ganz vergaß. Das war unklug, wusste er, denn man konnte der irrigen Meinung verfallen, dass einem von den Ereignissen des Tages schlecht wurde. Genau wie ein Seemann bei bewegter See seinen Magen mit etwas Verdaulichem beschäftigen musste, um nicht seekrank zu werden (was der Baron in einer Reisebeschreibung des Joseph Standham aus Plymouth gelesen hatte), durfte auch ein Justizbeamter in der ganzen Aufregung die einfachen Bedürfnisse seines Körpers nicht ignorieren. Trotzdem musste er sich nun mit dem Landammann und dem Statthalter beraten, was als nächstes zu tun war.
Wie denken die Herren über die schrecklichen Ereignisse?, fragte der Baron die Anwesenden. Herr Landammann?
Luzius Locher legte die kräftigen Fingerspitzen aneinander, Daumen zu Daumen, Zeigefinger zu Zeigefinger, dass seine Pranken einen großen kugeligen Käfig bildeten, in den er hineinblickte wie die Wahrsagerin in ihre Kristallkugel, und sagte dann in gesetzten Worten: Es ist so, wie der Knecht berichtet hat. Der Tiroler Franziskus Rimmel hat die Mägde und den Müller erschlagen. Wir haben seine Axt gefunden, das Blut der Opfer klebt daran.
Der Landammann öffnete den Fingerkäfig, entließ die düstere Prophezeiung wie einen Nachtfalter, zeigte die leeren Hände vor und hatte weiter nichts anzumerken.
Der Baron wandte sich an den Statthalter. Wie denkt Ihr darüber?
Das blasse Gesicht von Christian Fetz schien im Vorraum der Mühle zu leuchten. Es war so, wie der Landammann sagt, es war der Rimmel, ich sehe keine andere Möglichkeit.
Was wir nicht sehen können, gab der Baron zu bedenken, ist deshalb noch nicht unmöglich. Lasst uns nochmals fragen: Wer hat die Opfer entdeckt? Der Baron beantwortete seine Frage gleich selbst: Der Knecht. Wer hat die Axt gefunden? Der Knecht. Wer hat sie als diejenige des Tirolers erkannt? Der Knecht. Unsere bisherige Vorstellung des Hergangs beruht auf den Aussagen eines einzelnen Mannes –
Wieso sollte er lügen?, entfuhr es dem Landammann.
Eine gute Frage, entgegnete der Baron, ja, wieso sollte er lügen? Eine weitere Frage wäre: Wieso sollte dieser Rimmel drei Personen auf solch grausame Weise töten? Weil sie sich wegen eines Hundes stritten?
Eine Weile lang herrschte Schweigen im Raum.
Die Kriminalistik, fuhr er dann fort, darf sich nicht mit ein paar zufällig zueinander passenden Behauptungen zufrieden geben. Es sind Hinweise auf einen Verdächtigen, mehr nicht. Was die eigentliche Entdeckung des Verbrechens betrifft, lassen die Aussagen des Knechts folgenden Ablauf vermuten.
Am frühen Morgen um vier, vor zwölf Stunden genau, sagte der Baron mit einem Blick auf seine Uhr, die er wieder zuklappte und in seine Weste zurücksteckte, fanden sich fast gleichzeitig drei Personen vor der Mühle ein: Ein Mann, der angeblich zu Fuß aus dem Dorf Sculms kam, um Mehl zu holen. Eine Frau aus Rhäzüns mit der Absicht, Brot zu kaufen. Und der Knecht, der die paar Schritte vom Stall her kam, wo er geschlafen hatte. Die Mühle war gestellt, das Mühlrad drehte sich, aber der Eingang war verschlossen, was die Zeugen wunderte. Sie klopften lange und laut, aber niemand öffnete. Der Knecht begann sich Sorgen zu machen. Dann entdeckten sie unter der Treppe ein nacktes Bein, das unter den Holzscheiten herausragte, und als sie das Brennholz beiseiteräumten, fanden sie das erste Opfer, die ehemalige Magd des Müllers, Franziska Giesser. Der Knecht fiel vor Schreck in Ohnmacht, wie er selbst angab. Von der nahen Wiese wurden drei Mäher zu Hilfe geholt. Als der Knecht wieder auf den Beinen war, drangen sie durch einen Spalt in der hinteren Bretterwand in die Mühle. In der Stube entdeckten sie Blut auf dem Boden und blutige Fußabdrücke, die in die danebenliegende Kammer führten. Dort fanden sie noch mehr Blut, auf dem Holzboden und an den Wänden, außerdem blutgetränkte Kleider am Boden verstreut, und auf dem Bett den Müller auf der Magd liegend, beide nackt, von Wunden entstellt und offensichtlich tot. Das entspricht auch unseren eigenen Beobachtungen.
Darauf eilten die Mäher zu Fuß nach Bonaduz, um dem Pfarrer davon zu berichten, dieser schickte gleich zwei Boten, den ersten nach Ems zu Euch, Herr Landammann, den zweiten zu Euch, Herr Statthalter, nach Rhäzüns. Kurz hintereinander kamt Ihr mit Hauptmann Vieli, der sich freiwillig zur Verfügung stellte, an der
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