Die Dunkelheit in den Bergen
hatte, bereitete ihm großes Unbehagen. Diese Maßlosigkeit der Gewalt jagte ihm Angst ein. Das war kein Raubmord, wie er hin und wieder in einem der abgelegenen Täler geschah, in einem einsamen Bauernhof, auf einer Alp oder nachts auf der Straße. Dann bekam einer eins auf den Kopf, und wenn er Glück hatte, wachte er am Straßenrand sogar wieder auf, wenn auch mit leeren Taschen. Hier aber hatte jemand drei Menschen, zwei davon schwangere Frauen, unverhältnismäßig grausam niedergemetzelt. Als wäre er von einem Teufel besessen oder dem Wahnsinn anheimgefallen. Wer wusste schon, ob sich der Täter nicht irgendwo in der Nähe versteckt hielt? Ob er auch jeden weiteren Menschen angreifen würde, dem er begegnete? Dass er auf der Flucht war, machte ihn besonders gefährlich. Wo war er jetzt? Was hatte er vor? Statthalter Fetz wollte heute jedenfalls die Haustür gut verriegeln und kein Fenster offen lassen. Und er wollte jedem in Rhäzüns in den nächsten Tagen dasselbe raten. Zum Glück hatte er zu Hause den Hund an der Kette. Das Tier ließ keine Fremden herankommen. Vielleicht wäre es angebracht, im Ort eine bewaffnete Nachtwache aufzustellen.
Der Statthalter zwickte den Freiberger mit der Peitsche an die Flanke, damit er den Anschluss an die Karosse nicht verlor.
Hostetter saß auf dem Kutschbock und hielt die Zügel locker in der Hand. Die beiden Rappen trabten munter voran, vor ihnen war bereits der Kirchturm von Bonaduz zu sehen. Hostetter war froh, dass sie wieder unterwegs waren. Das Herumstehen und Warten bei der Mühle konnte einem das Leben vermiesen. Nun ging es endlich weiter, der Wagen rollte, die Hufe trommelten eifrig auf den Boden. Hostetter wusste nicht, was der Verhörrichter nun plante, aber es konnte nur darum gehen, den Täter zu fassen.
Rauch saß mit steinerner Miene neben ihm und hielt sich mit der Hand fest. Der fürchterliche Anblick der Frau ging ihm nicht aus dem Sinn. Vor zwei Tagen hatte er sie kennengelernt, und nun traf er sie derart misshandelt wieder. Das zweigeteilte Gesicht mit dem offenen Auge, das zur Seite starrte. Er wusste nicht, weshalb sie erschlagen wurde. Und er versuchte zu verstehen, welche Rolle er dabei spielte. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er etwas damit zu tun hatte. Auf dem Weg nach Feldkirch, wo er neben ihr sitzen durfte, hatte sie ihm viel von sich erzählt. Es war wie ein Geschenk für ihn. Und er? Er hatte sie einfach allein weiterreisen lassen. Jetzt lag sie da hinten auf dem Leiterwagen. Seit sie gestern in Chur angekommen waren, verstand Rauch nicht mehr, was mit ihm geschah. Im Gefängnishof, in der Viehhandlung, in der Mühle. Er hatte keine Zeit gehabt zu überlegen, was er eigentlich tun wollte. Keine Zeit, Onkel Mohn in der Schmiede zu besuchen. Oder ins Lugnez zu wandern, um seine Eltern und seine Geschwister wiederzusehen. Ihnen zu erzählen, wie es ihm als Söldner ergangen war. Den Sold zu zeigen und ihnen etwas davon zu geben. Für gar nichts war Zeit gewesen. Kaum war er irgendwo angekommen, ging es schon wieder weiter. Jetzt nach Bonaduz ins Wirtshaus. Sein Magen knurrte und rumorte vor Hunger. Sie hatten am Vormittag in der Viehhandlung zwar reichlich gefrühstückt. Aber inzwischen war das einige Zeit her. Und der letzte Kanten Brot in der Tasche war aufgegessen.
In der Karosse saßen Baron von Mont, Doktor Gubler und Hauptmann Vieli und blickten aus den Fenstern. Der Verhörrichter sah die Bonaduzer Bauern auf den Wiesen außerhalb des Dorfes. Sie beluden ihre Wagen mit Heu, abenteuerlich hoch und breit türmte es sich auf. Ein schönes Bild. Heuernte. Sie erinnerte den Baron an seine Kindheit in Schleuis. An die Ställe, den Geruch nach Heu, draußen das drohende Abendgewitter. Eine unvergleichliche Stimmung herrschte, wenn das Heu eilig unters trockene Dach zu bringen war, bevor das Gewitter losging. Wunderbar, wenn es gelang und man hinterher dem Geräusch des Regens lauschen konnte.
Diese Erinnerung hatte auch eine dunkle Seite. Wenige Wochen nach seinem zehnten Geburtstag ging die unbeschwerte Kindheit jäh zu Ende. In einem einzigen Augenblick auf einer missglückten Reise. Der anhaltende Regen war daran maßgeblich beteiligt. Der Fluss war angeschwollen. Ein Stück Straße brach unter der Kutsche weg. Die Fluten rissen Geröll und Schlamm mit sich und auch die Kutsche. Das Pferd schrie. Ein Pferd schreit nicht, es wiehert. Aber der Laut, der das Rauschen übertönte, hatte keine Ähnlichkeit mit einem
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