Die dunkle Armee
kommen mit deinem Siegel in die Städte, suchen Leute auf, die sich bisher versteckt haben, und nehmen sie mit. Diejenigen, die dort bleiben, haben nur noch den Orden, der ihnen erklären kann, was da gerade geschehen ist. Denk darüber nach, Herine. Es gibt nur drei erwachsene Aufgestiegene.«
»Vier.«
»Den Abtrünnigen zählen wir nicht mit. Sie sind nicht genug, um mehr zu tun, als Gerüchte in Umlauf zu bringen. Noch glauben die Leute nicht an sie. Vielleicht werden sie es niemals tun.«
Sie kamen an der Bibliothek vorbei, in der das gesammelte Wissen des Aufstiegs lagerte. Ein Raum, der förmlich vor Geheimnissen knisterte. Herine wurde schon nervös, wenn sie nur über die Schwelle trat. Rechts gab es ein Empfangszimmer, in dem diejenigen, die Anzeichen aktiver oder passiver Begabungen zeigten, in den Aufstieg eingeführt wurden. Weiter hinten dienten Schreibstuben und Archive der Verbreiterung der Wissensbasis. Im Laufe der Generationen würde dieses Zentrum die Entwicklung des Aufstiegs weitertreiben, bis er irgendwann in ferner Zukunft, wenn alle Bürger diese Begabungen zeigten, selbst zur historischen Kuriosität werden würde.
Das, so musste Herine annehmen, war eben der Fortschritt. Doch es gab Tage, an denen sie voller Angst aufwachte und sich fragte, was sie da förderte. Es war ein Gefühl, das sie einfach nicht abschütteln konnte.
»War es also falsch, an sie zu glauben?« »Nein«, widersprach Jhered voller Nachdruck. »Du hast eine Entscheidung getroffen, die in späteren Zeiten als tapfer und weit blickend gewürdigt werden wird. Das Ergebnis sind allerdings zunächst diese unruhigen Zeiten.«
Herine nickte, und ihre Stimmung besserte sich ein wenig, bis sie sogar lächeln konnte. »Na schön. Du weißt ja, ich hatte mir vorgestellt, man würde mich schon zu Lebzeiten verehren. Die Vergötterung nach dem Tod nützt mir leider nichts mehr.«
Darüber musste Jhered so laut lachen, dass es durch die Flure hallte.
»Damit hast du noch Glück. Ich werde vor der Geschichte als der Mann dastehen, der allen Bürgern ein Stachel im Fleische war. Was du unbefriedigend findest, wäre für mich schon eine wundervolle Wendung.«
»Ich weiß, was du wert bist.«
Jhered verneigte sich. »Im Grunde reicht mir das auch.«
Sie blieben vor einem kleinen Unterrichtsraum stehen. Unter den wachsamen Augen von Hesther Naravny, der Mutter des Aufstiegs, unterrichtete Mirron fünf erwachte Aufgestiegene. Alle Schüler waren siebzehn Jahre alt, gehörten der zehnten Linie an und entwickelten sich prächtig. Auch anderswo wurden kleine Gruppen von Bürgern, ob jung oder alt, aus der ganzen Konkordanz im alten Wissen unterrichtet, das bis vor Kurzem noch unter einem Wust von Vorurteilen verschüttet gewesen war. Die meisten würden ihre Begabungen wieder verlieren. Einige würde man bitten, die Väter und Mütter zukünftiger Linien zu werden. Einige würden sich weigern. Das Rad würde sich nur langsam drehen.
Jhered öffnete die Tür und ließ Herine eintreten, die mit einer Handbewegung allen zu verstehen gab, sie sollten sich wieder setzen. Es wurde schlagartig still im Klassenzimmer.
»Entschuldigt die Störung, Mirron. Dürfen wir uns setzen und zuhören?«
Mirron lächelte. »Aber natürlich, meine Advokatin. Es ist mir eine Ehre.« Dann wandte sie sich wieder an ihre Schüler. »Jetzt steht ihr mächtig unter Druck, die richtigen Antworten zu finden, was?«
Nervöses Gelächter antwortete ihr.
»Also gut, zurück zur Lektion. Wir haben es fast geschafft. Cygalius, du warst gerade dabei, uns theoretisch zu erklären, wie man eine langsame Energieform in eine schnelle Energiestruktur, etwa die eines Feuers, umwandelt. Du hast ganz richtig vorgeschlagen, dass ein Baum hierfür ein gutes Beispiel wäre. Fahre fort.«
»Ahm …« Der Bursche mit den hellroten Haaren sah sich nervös zu Herine um und lief auch im Gesicht knallrot an. »Also, äh … ich wollte sagen, dass sie … ahm …«
»Oh, es tut mir leid.« Herine unterdrückte ihr Lachen. »Ich habe dich aus dem Konzept gebracht. Mach dir bitte keine Sorgen. Du kannst sagen, was du willst, ich könnte sowieso nicht unterscheiden, ob es richtig oder falsch ist.«
Wieder war im Klassenzimmer nervöses Kichern zu hören. Cygalius rang sich ein Lächeln ab, holte tief Luft und begann zu sprechen. Herine lehnte sich zurück und hörte zu. Neben ihr rutschte Jhered unbehaglich auf einem Stuhl herum, der viel zu klein für ihn war, und knurrte leise.
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