Die dunkle Armee
Verstärkung, sie …«
Corvanov ließ den Satz unvollendet. Lianov und die beiden anderen Männer starrten sie an, ohne sie zu hören, und näherten sich weiter. Jetzt bekam sie es mit der Angst und wich einen Schritt zurück. Lianov drehte den Kopf ein wenig zu ihr herum, und die drei Männer beschleunigten ihre Schritte.
Mit allen dreien stimmte etwas nicht. Ihre Haut war nicht runzlig und braun wie bei den Bewohnern einer Hafenstadt, sondern wirkte kränklich blass, als litten sie immer noch unter der Seuche, obwohl dies nicht der Fall sein konnte. Einer der Männer hatte eine hässliche Schnittwunde am Arm, auf die jetzt ihr Blick fiel. Die Wunde war nicht verbunden und versorgt. Sie war schmutzig, und in ihr krabbelte etwas.
»Oh, guter Gott«, keuchte sie.
Maden. Endlich siegte ihr Instinkt, und sie drehte sich um und rannte weg. Eine Hand schoss vor, bekam aber den Mantel nicht zu fassen. Wieder wurden hinter ihr Rufe laut. Sie war jedoch eine Erste Botin, schneller als die meisten anderen zu Fuß oder zu Pferd. Gott umfange sie, sie wünschte, sie hätte auf ihren Hengst gehört. Er hatte gespürt, dass hier etwas nicht in Ordnung war.
Auf einmal schoss ein stechender Schmerz durch ihr Kreuz, und ein wuchtiger Einschlag ließ sie straucheln. Das Messer war lang, die Klinge scharf. Sie wollte sich wieder aufrichten, verlor aber rasch ihre Kräfte, während ihr Blut aufs staubige Pflaster rann.
»Meister Lianov«, sagte sie und hob eine Hand. »Ich bin es doch, die Erste Botin Corvanov. Bitte, ich bin doch nicht Euer Feind.«
Die drei Männer bauten sich vor ihr auf, als sie auf die Seite fiel und mit einer Hand hilflos nach dem Messer im Rücken tastete. Sie keuchte vor Schmerzen und schüttelte den Kopf, um den Blick zu klären, starrte Lianov an und suchte in seinen Augen eine Antwort auf ihre verzweifelten Fragen. Ein kurzes Flackern glaubte sie zu erkennen, aber nicht mehr. Seine Miene blieb reglos wie die einer Leiche, und in seinen Augen zeigte sich kein Gefühl.
»Was ist nur los mit Euch?«, sagte sie. Jetzt strömten auch ihre Tränen, als die Hoffnungslosigkeit sie übermannte. »Warum habt Ihr das getan? Bitte, nicht!«
Hafenmeister Lianov zog den Gladius aus dem Gürtel und stach ihn durch ihre Rippen bis ins Herz. Noch bevor es dunkel um sie wurde, hatten die Männer sich umgedreht und entfernten sich von Corvanov.
11
859. Zyklus Gottes,
16. Tag des Genasauf
D ie drei Schiffe der Einnehmer waren auf ihrer Reise nach Westen, quer über das Tirronische Meer zum gesternischen Hafen Kirriev, gut vorangekommen. Sechs Tage waren sie mit stetigen fünf Knoten gesegelt. Von Kirriev aus würden sie noch einmal zwei Tage flussaufwärts bis Ceskas fahren, jener Grenzstadt, an die sich alle Aufgestiegenen voller Unbehagen erinnerten.
Jhered wanderte auf dem Deck der Falkenpfeil umher. Er fühlte sich um zehn Jahre zurückversetzt. Mirron stand allein an der Reling und starrte die gesternische Küste an, während sie in die Bucht von Kirriev segelten. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine wundervolle Landschaft. Hier und dort verhüllte Nebel die hoch aufragenden Klippen, hinter denen eine üppige Vegetation vorherrschte, die teilweise sogar über die Kanten herabhing und die schmalen Terrassen schmückte. Wo der Fels die Erde vor dem Wind schützte, brachen bereits die ersten Blumen durch, die Genastrovögel bauten ihre Nester und stießen weittragende, klagende Rufe aus. Es klang in Mirrons Ohren wie eine Warnung. Wie passend.
Jhered trat schweigend hinter sie. Sie trug einen dicken Mantel, um sich vor der frischen Brise zu schützen. Da sie die Kapuze hochgeklappt hatte, konnte Jhered nicht erkennen, wohin sie schaute. Vermutlich nach vorne wie jeden Tag.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
Sie drehte sich um, ihr schönes Gesicht war von der Kapuze eingerahmt. Ihre Verletztheit und ihr Kummer versetzten ihm einen Stich ins Herz.
»Ich weiß nicht, was ich empfinden soll«, sagte sie. Das war mehr, als er ihr in den letzten vier Tagen hatte entlocken können. »Je näher wir kommen, desto ferner fühle ich mich.«
Jhered runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht folgen.«
»Ich bin sicher, dass wir in die richtige Richtung fahren, aber es gibt so viel, was wir nicht wissen. Er könnte meinen Sohn irgendwohin verschleppen, wo ich ihn nie finden würde. Er könnte ihn schrecklichen Gefahren aussetzen, und ich wäre nicht da, um ihn zu beschützen. Woher wissen wir, dass er überhaupt
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