Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
andere Dinge im Kopf.«
»Aber ich hätte es dir sagen müssen, Conrad. Schon nach der Hochzeitsnacht, ich habe nicht den Mut gehabt und mich der irrationalen Hoffnung hingegeben, dass es nicht wieder passieren würde. Ich hätte Vorkehrungen treffen müssen, Friedrich um Hilfe bitten; wir wussten beide, dass die Vollmondnächte für dich und uns gefährlich werden könnten, aber wir haben nichts zu deinem und unserem Schutz unternommen.«
Erst jetzt war mir klar, wie leichtfertig ich mit unser aller Leben umgegangen war, und es war nur Conrads Liebe zu mir zu verdanken, dass es nicht zu einem größeren Massaker gekommen war, das uns wohlmöglich alle ausgelöscht hätte. Ich fragte mich mutlos, wie es nun weitergehen sollte. Solange Conrad diese schreckliche Doppelexistenz führen musste, würde er immer eine Gefahr für uns bleiben.
»Ich habe gelernt, meine Verwandlung bewusst wahrzunehmen«, sagte er in meine Gedanken hinein. »In den letzten beiden Vollmondnächten habe ich mich im Geheimen Gewölbe in einen fensterlosen Raum eingeschlossen und angekettet. Die Bestie brauchte Zeit, um die Ketten zu sprengen, und als sie es geschafft hatte, war sie offenbar bereits ein Wolf und nicht mehr in der Lage, die Tür zu öffnen. Denn als ich mein Bewusstsein wiedererlangte, lag ich beide Male mit blutenden Händen vor der schweren Eichentür, in welcher die Wolfskrallen ihre Spuren hinterlassen hatten.«
»So hat die Bestie versucht auszubrechen, konnte aber die Tür nicht überwinden. Das gibt Hoffnung.«
»Hoffnung? Wo siehst du Hoffnung, Amanda? Du bist mit einer Bestie verheiratet, die dein Kind ermordet hat. Ich bin eine wilde, unzähmbare Kreatur, die dein Mitleid nicht verdient hat.«
»Doch, Conrad«, sagte ich, »wir werden einen Weg finden, die Bestie zu zähmen. So wie ich mit deiner Hilfe meinen Bluttrieb zu steuern lernte, so wirst auch du mit meiner Unterstützung in den Vollmondnächten den Werwolf bezwingen.«
»Und wie stellst du dir das vor? Soll ich nun jede Vollmondnacht bis an das Ende meiner Tage in Ketten liegen? Du ahnst weder die seelischen Qualen noch die körperlichenSchmerzen der Verwandlung … Die panische Angst der Bestie, wenn sie erkennt, dass sie im Gewölbe gefangen ist … ihr Freiheitsdrang ist mächtiger als alles …«
»Es gibt dennoch keine Wahl!«
»Eine Silberkugel …«
»Niemals, vergiss diesen grässlichen Gedanken!«
Erregt sprang ich auf, und weil mich die Luft im Raum zu ersticken drohte, schlug ich vor, hinauszugehen und ein wenig durch die Natur zu laufen.
Die Sonne war längst untergegangen, aber die frühsommerliche Wärme des Tages umhüllte uns noch mit sanfter Gelassenheit. Es war eine dieser Nächte, die wie schwarzer Samt sind und mit ihrer immanenten Feierlichkeit etwas ganz Besonderes in uns wecken. Vielleicht lag es nur an dieser Nacht, in der alles relativ und leicht wurde, was sonst schwer war und Gewicht hatte, dass auch ich milder wurde.
Lange standen wir schweigend an Wolfgangs Grab. Conrad war niedergedrückt von seiner Schuld, aber als ich weinen musste, ergriff er meine Hand und ließ sie nicht mehr los. Auch nicht, als ich immer noch schweigend meine Schritte hinunter zum See lenkte, an die Stelle, wo meine Schuld begraben lag.
Seit Jahren … im Wasser … von Algen umsponnen … der blonde Junge … vielleicht schon aufgelöst und völlig vergangen …
Mit welchem Recht konnte ich angesichts meiner eigenen Tat Conrad richten?
Ich musste daran denken, wie sich meine Mutter Estelle zum ersten Mal mit Amadeus vereinigt hatte, am Jungfernsee in Potsdam, am Vorabend ihrer Hochzeit.
Auch das im klaren Bewusstsein, ein Verbrechen zu begehen …
Und als mich Conrad am Wasser plötzlich wie ein Ertrinkender mit seinen Armen umschlang und mein Gesicht mit Küssen bedeckte, da war auch ich bereit, gegen Sitte und Moral zu verstoßen und den Mörder meines Kindes zu lieben … mit meiner unendlichen Sehnsucht, jeder Faser meines ihm entgegendrängenden Körpers und meinem ganzen Schmerz.
Zurück im Gutshaus holte ich die Familienchronik aus ihrem Versteck und gab sie Conrad zu lesen. Es war an der Zeit, dass ich ihn über meine wahre Natur aufklärte. Ich ertrug es einfach nicht, dass er sich alleine für ein Monster hielt, während ich ebenfalls aufgrund meiner Natur mordete. Er sollte wissen, dass wir beide gleichermaßen außerhalb der menschlichen Gemeinschaft standen und unser Schicksal nur dann bewältigen konnten, wenn wir fest
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