Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
kam, getrieben von der Hoffnung und dem Glauben, dass Estelle eines Tages nach Blankensee zurückkehren würde. Dass er ankommen und sie ihm mit wehenden Röcken aus der Haustür entgegeneilen würde … so wie sie es immer getan hatte, wenn er aus Berlin angereist war …
Plötzlich sah ich die Szene ganz deutlich vor mir und mich mittendrin mit dem Hund zusammen Freudensprünge aufführen und dem Großvater in die Arme stürzen. Wie konnte er mir nun so fremd sein?
»Er ist sich selber fremd«, versuchte Lenz es mir später am Abend zu erklären. »Er trägt an schweren Verlusten. Ihre Mutter scheint am selben Tag verschwunden zu sein, als Ihr Onkel Hansmann Sie in die Klinik bringen ließ. Wie Sie scheint auch Ihre Mutter ohne Abschied aus seinem Leben gegangen zu sein … Hat sie zuvor noch irgendetwas zu Ihnen gesagt? Eine Andeutung gemacht, wohin sie wollte?«
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Ich erinnere mich an nichts, an gar nichts, es ist, als bestünde mein Leben hier aus einem großen Wald voller Nebel, in dem ich halb blind umherirre, und jeder Baumstamm ist ein Ungeheuer, hinter dem sich irgendeineWahrheit oder Erkenntnis verbirgt, die ich mir aber erst erkämpfen muss.«
Lenz lächelte. »Amanda, seien Sie gewiss, ich werde an Ihrer Seite kämpfen.«
Er schaute mich wieder mit dem bohrenden Blick des Analytikers an, der mir stets eine Gänsehaut verursachte. »Wenn Sie es zulassen. Werden Sie das?«
»Wollen Sie mich dafür doch noch hypnotisieren?«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Nein, wir werden es weiter mit der Psychoanalyse versuchen, genau so, wie Freud sie praktiziert. Vielleicht haben Sie gelegentlich einen Traum, den werden wir in die Analyse mit einbeziehen, aber Hypnose …? Nein, ich glaube, die wird uns wohl auch hier nichts bringen, Sie sind dafür einfach zu …«, er lächelte ein bisschen ironisch, »… störrisch!«
Innerlich musste auch ich ein wenig lächeln, weil er mich offensichtlich für eine etwas widerborstige Patientin hielt und das zum ersten Mal zugegeben hatte. Das schuf eine gewisse menschliche Nähe, denn es zeigte, dass er mich nicht nur als Fall, sondern auch als Person wahrnahm, woran mir seltsamerweise sehr viel lag.
Das Wort störrisch weckte in mir allerdings sofort die Erinnerung an unsere Pferde, besonders an meinen Hengst Baldur, der genauso ein Dickkopf war wie ich. Er war ein Geschenk meines Vaters.
Die Luft war lau und roch wie ein schweres Parfüm aus dem Boudoir meiner Mutter. Altweibersommer nannte Rieke diese Zeit, in der die Nächte schon so kühl waren, dass sie die Blätter der Bäume verfärbten, aber die Abende noch die Erinnerung an die Wärme des Sommers in sich trugen.
»Mit gelben Birnen hänget und voll mit wilden Rosen dasLand in den See … ihr holden Schwäne … und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser …«
Mein Vater sprang mit diesen Worten vom Pferd und ging hinaus auf den Steg. Ich folgte ihm.
»Deine Mutter«, sagte er unvermittelt, als wir nebeneinanderstanden und über das leicht bewegte Wasser schauten, »deine Mutter ist kein Mensch. Du fragst dich sicher manchmal, warum sie so unbeständig ist in ihrem Verhalten … Vielleicht schmerzt es dich auch, wenn sie dir nicht immer die Wärme und Liebe gibt, die du beständig von ihr verdient hättest … aber alles erklärt sich aus einer Tragödie in ihrem Leben, von der sie dir persönlich berichten wird, wenn du alt genug bist, zu verstehen. Ich spreche heute mit dir darüber, damit du weißt, dass es nicht ihre Schuld ist, wenn sie in der Liebe zu dir sprunghaft und unbeständig erscheint. Lass es also ihr gegenüber nicht an Liebe deinerseits mangeln. Sie hat sie hundertfach verdient, denn ich weiß, unter welchen Schmerzen und lebensbedrohlichen Komplikationen sie dich geboren hat.«
»Du liebst sie sehr«, hatte ich leise gesagt und meine Hand in die seine geschoben.
»Ja, das tue ich, mehr als mich selber. Ohne sie wäre ich längst nicht mehr.« Er seufzte. »Ich wünsche mir, dass sie ewig bei mir bleibt.«
Aber als eine kühle Brise aufkam, da zog er fröstelnd die Schultern zusammen und stand einen Moment auf dem Steg, als überlegte er, ob er wohl über Wasser gehen könnte.
Zurück auf dem Gut lieh ich mir von meiner Mutter den Band von Hölderlin, um das Gedicht, das Amadeus begonnen hatte, zu Ende zu lesen. Und während ich es las, glaubte ich mein künftiges Schicksal vor mir zu sehen und fror bis in meine
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