Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Seele.
Die Mauern stehn sprachlos und kalt. Im Winde klirren die Fahnen. Weh mir!
»Woran denken Sie?«, fragte Lenz in meine Gedanken hinein. »Lassen Sie mich an Ihren Erinnerungen teilhaben.«
Ich kam nur langsam zurück und schaute ihn darum wohl etwas verwirrt an.
»Er hat gesagt, meine Mutter sei kein Mensch …«
»Wer hat das gesagt?«
»Mein Vater, Amadeus von Treuburg-Sassen. Was mag er damit gemeint haben?«
Lenz wirkte irritiert. »Ich weiß es nicht, symbolhaft, denke ich, er hat es vermutlich symbolhaft gemeint … sie ist kein Mensch für mich, sondern eine Göttin … Könnte das zutreffen, ich meine nur so als Beispiel …«
Ich schüttelte den Kopf und dachte, wenn überhaupt etwas in der Art, dann wohl eher eine … Hexe … behielt das aber für mich.
Die Beziehung zu den Eltern ist für ein Kind oft ambivalent, hatte Lenz gesagt, sie ist von guten und positiven Gefühlen ebenso geprägt wie von Ablehnung und bösen Wünschen. Dem konnte ich mich angesichts des Wechselbades von überschwänglicher Liebe und regelrechter Ablehnung durch meine Mutter, das mir ganz plötzlich wieder bewusst wurde, rückhaltlos anschließen. Liebe und Hass, das waren die einzigen Gefühle, die ich beim Gedanken an sie reproduzieren konnte. Dazwischen gab es nichts, und ich war mir nicht sicher, welches dieser Gefühle das stärkere war. Ihre Ambivalenz, ihre Sprunghaftigkeit, der manisch-depressive Umgang mit mir, ließ nichts anderes zu. Ich sah sie vor mir, eine Schönheit, kalt und erstarrt, gab sie mir weder Sicherheit noch Vertrauen. Immer hatte ich um ihre Liebe gekämpft ...
Und nun war sie nicht mehr auf dem Gut, einfach verschwunden,wie Großvater Vanderborg betrübt erzählte. Am Anfang hatte ich mir in meiner Zelle in der Klinik den Kopf darüber zerbrochen, warum sie erlaubt hatte, dass Hansmann mich in diese Anstalt verschleppen ließ. Jede Minute, jede Stunde, jeden Tag hatte ich gehofft, dass sie mich dort wieder herausholen würde. Ja, ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie mich nicht in dieser schrecklichen Einrichtung lassen würde. Doch die Zeit verrann und mein Hoffen war vergebens. So musste ich schließlich die bittere Wahrheit akzeptieren, dass sie mich vergessen hatte, weil sie mich nie wirklich geliebt hatte und es sie deswegen nicht interessierte, was aus mir geworden war …
Gestörte Mutter-Kind-Bindung hatte Lenz es genannt. Er war schon ein kluger Kopf, dieser Dr. Sigmund Freud, nach dessen Theorie er arbeitete.
»Wir hatten ein anständiges Gestüt«, lenkte ich auf ein anderes Thema über, denn ich wollte mich im Augenblick nicht mit ihm darüber auseinandersetzen.
»Und wo sind die Pferde jetzt?«
»Fort«, sagte ich.
Ich weinte drei Tage und habe bis heute das Bild von dem Hengst nicht vergessen, der auf einem Foto der Berliner Illustrirten Zeitung zu sehen war. Neben einem Soldaten verendet in einem Stacheldrahtverhau. Es musste mein Baldur gewesen sein … ich kannte doch seine Blesse …
Lenz bezog ein Gästezimmer, während ich in mein Kinderzimmer zurückkehrte, das seit Jahren unverändert schien.
Ich holte mir ein Staubtuch aus einem Putzschrank im Flur und staubte erst einmal alles gründlich ab. Das Haus war sehr schön möbliert, zum Teil noch mit den historischenMöbeln der adeligen Vorbesitzer, die meine Mutter hatte restaurieren lassen. Aber ich konnte mich daran nicht erfreuen, denn über allem lag ein diffuser Hauch von Tod und Verwesung. Ich meinte ihn sogar in den Räumen riechen zu können. So irrational das auch war, es fiel mir schwer, ihn abzuschütteln, denn er schien durch jede Pore meines Körpers in mich einzudringen, und es kostete mich größte Anstrengung, nicht in eine dumpfe Melancholie zu fallen.
»Du musst«, befahl ich mir schließlich mit all meiner Willenskraft und machte mich auf die Suche nach Bettwäsche. Ich fand sie im Flur in einem großen alten Schrank mit Weißzeug. Meine Mutter hatte das Haus sehr ordentlich geführt. Eigentlich ja mehr führen lassen, denn für die ganzen alltäglichen Verrichtungen waren Käthe, die Hauswirtschafterin, und unser Dienstmädchen Gretchen zuständig gewesen. Das Haus musste ihre Aura bewahrt haben, sodass sie plötzlich für mich wieder greifbar und lebendig wurden.
Die resolute Käthe, welche das Regiment über die Küche hatte und an deren Rockzipfel ich aufgewachsen war, Gretchen, die Dienstmagd aus dem Dorf, mit sieben Geschwistern, die ich darum nicht
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