Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
beneidete, weil mir schon früh bei einem Besuch im Dorf klar wurde, dass Kinderreichtum Armut bedeutete.
Sie waren wie Familienmitglieder für mich gewesen und ich hatte mich mehr bei ihnen aufgehalten als in der Gesellschaft meiner Mutter. Ja, genau genommen hatten die beiden mich von meiner Geburt an unter ihre liebevolle Obhut genommen. Ohne sie hätte ich gewiss meine ersten Wochen auf dieser Erde nicht überlebt.
Ich bezog Plumeau und Federkissen, spannte ein Laken auf und stieg dann in eins meiner Mädchennachthemden, das mir freilich ein wenig knapp war. In den wallenden Anstaltskitteln war mir nicht aufgefallen, dass ich zwischenzeitlich sehr viel weiblichere Formen entwickelt hatte. Ich war siebzehn Jahre jetzt, fast schon achtzehn, und wirklich kein Kind mehr.
Der Gedanke, eine Frau zu werden, war mir jedoch unheimlich, denn ich fürchtete die brutale Begierde der Männer, wie ich sie durch die Pfleger in der Anstalt kennengelernt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, einem Mann jemals zu gestatten, derartig über mich herzufallen, um seine fleischliche Lust an mir zu befriedigen. Fröstelnd kroch ich unter das Oberbett.
Ich wollte gerade das Licht löschen, als es leise an der Tür klopfte, auf nackten Sohlen lief ich hinüber, weil ich dachte, dass es Lenz sei, aber es war der Großvater.
»Hast du alles, was du brauchst, mein Kind?«, fragte er fürsorglich, was mich nun doch rührte und in mir schöne Erinnerungen weckte, in denen er immer sehr liebevoll mit mir umgegangen war und sich auch um meine geistige Erziehung bemüht hatte. Ich nickte, und weil es mich interessierte, stellte ich nun doch die Frage nach dem Verbleib von Hansmanns Familie, deren Mitglieder mir seltsamerweise nur als verschwommene Schemen im Gedächtnis geblieben waren. Lediglich der Onkel hatte scharf umrissene Konturen in meiner Erinnerung. Vielleicht weil ich ihm die Schuld an meinem persönlichen Unglück gab, das mich drei Jahre meiner Jugend gekostet hatte.
»Sie leben wieder in Berlin«, sagte er. »Hansmann führt die Bankgeschäfte für deinen … einen Verwandten. Wir werden ihn gelegentlich besuchen, wenn du es möchtest.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht meinetwegen, ich halte es ganz gut ohne ihn und seine Familie aus.«
Ich war schon immer ein Nachtmensch, und so erhob ich mich, als die Männer schliefen, und lief aus dem Haus, hinunter zum See.
Es war Dezember, klirrend kalt und die zarten Zweige der Birken waren mit einer glitzernden Eishaut überzogen. Ein scharfer Wind trieb Wellen auf dem See.
Weit ging mein Blick über das Wasser, bis an die dunkle Wand der Wälder am gegenüberliegenden Seeufer. Die Luft schmeckte nach Frost. In meine Seele senkte sich ein dunkler Frieden. Hier am Steg im Sturm zu stehen war das höchste Glück des Tages. Dieser Moment, in dem ich von der Natur umarmt wurde wie von einer Mutter, machte mir bewusst, dass ich endlich wieder frei war.
Was Onkel Hansmann anging, hatte ich meine Rechnung ohne Lenz gemacht.
»Natürlich werden wir ihn besuchen. Schließlich hat Hansmann Vanderborg Sie in die Klinik einweisen lassen, er muss also wissen, was damals geschehen ist. Wir sollten unbedingt auch seine Version hören. Amanda, glauben Sie mir, es muss sein.«
Aber sosehr er auch versuchte mich zu überzeugen, ich wollte Hansmann und seine Familie nicht wiedersehen. Ich konnte ihm und seinen Söhnen nie etwas recht machen, und ich war mir sicher, dass er mich und Mutter vom Gut vertrieben hatte, um dort selber den Herrn zu spielen. Dass er nun offensichtlich in Berlin etwas Besseres gefunden hatte, war mir sehr willkommen, denn so traf ich ihn wenigstens hier auf Blankensee nicht an. Ich weiß wirklichnicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten hätte. Mein Hass auf ihn war unermesslich, und was immer ich mir in Bezug auf Rieke und Hermann auch hatte zuschulden kommen lassen, es konnte nicht das Martyrium rechtfertigen, das er mir mit der Einweisung in die Irrenanstalt angetan hatte. Jedenfalls empfand ich das so und weder Lenz noch der Großvater konnten mich von dieser Einschätzung abbringen. Schon gar nicht, als ich mich daran zu erinnern begann, wie sich Tante Gertrud und Onkel Hansmann ständig in meine Erziehung eingemischten hatten, was schließlich zu einem ernsthaften Streit zwischen meiner Mutter und Hansmanns Familie geführt hatte.
Sie kritisierten zum Beispiel meinen »für ein junges Mädchen unziemlichen Tagesablauf«, der sich in der Tat
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