Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Psychiater an der Klinik, in welcher Amanda die letzten drei Jahre verbracht hat. Ich hatte unsere Ankunft mit einer Depesche avisiert. Sie haben sie doch hoffentlich erhalten?«
Vanderborg nickte bedächtig.
»Depesche? Ja, ja … sie hat mich in Berlin erreicht … ich bin sehr überstürzt hierhergeeilt und bin, ehrlich gesagt, noch nicht auf Besuch eingerichtet … der Komfort, falls Sie über Nacht bleiben wollen, wird sich in Grenzen halten.«
Ich lachte, weil er sich so unnötige Sorgen machte, alles bot mehr Komfort als die schreckliche Anstalt, von der ich geglaubt hatte, dass ich sie nie mehr verlassen würde. Dankbar sah ich Lenz an und war froh, dass ich mich ebenim Automobil nicht an ihm vergriffen hatte. Nur ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich wieder hier auf Gut Blankensee war. Auch wenn mich dieser alte Herr, der mein Großvater sein sollte, zunächst nur irritierte, weil mir an ihn jegliche Erinnerung fehlte. Er aber schien sich nun an mich zu erinnern, denn er trat auf mich zu und betrachtete mich mit einigem Erstaunen.
»Du bist groß geworden, Amanda, eine junge Dame … und eine Schönheit dazu …« Das kurze lebhafte Aufflackern in seinen Augen wich abrupt einer stumpfen Leere, so als hätte eine unschöne Erinnerung einen dämpfenden Schleier über seinen Blick gelegt. »Du bist blond wie Estelle, aber ansonsten ähnelst du deiner Mutter gar nicht«, sagte er leise, »… das ist schade …« Er wandte sich enttäuscht ab, ohne mich wirklich begrüßt zu haben. Kein Handschlag, geschweige denn ein Küsschen auf die Wange. Das tat mir weh. Was konnte ich schließlich dafür, dass ich seiner Tochter nicht ähnlich war. Wo war sie überhaupt?
»Wo ist meine Mutter?«, fragte ich also spontan. »Lebt sie nicht mehr hier?«
Er verhielt den schlurfenden Schritt, drehte sich zurück und sah mich voll Unverständnis an.
»Das fragst du mich? Hast du vergessen, dass sie an jenem Tag verschwand, als du dieses Haus in eine Stätte blutigen Entsetzens verwandelt hast?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, das war mir nicht mehr bewusst. Ich erinnerte mich nur, dass etwas Schreckliches geschehen war und Onkel Hansmann mich deswegen in die Klinik verschleppen ließ … aber dass außer Rieke und Hermann auch meine Mutter in die Geschehnisse involviert gewesen sein sollte, das war mir gänzlich neu. Hatte ich auch ihr ein Leid zugefügt? Ich verfluchte meine Gedächtnislückenund Professor Müller-Wagner, dessen Experimenten ich die Schuld daran gab. Warum war Lenz nicht schon damals bei meiner Einweisung in der Klinik gewesen? Jahrelanges sinnloses Martyrium wäre mir erspart geblieben!
Ich sah Lenz fragend an und flüsterte nahe an seinem Ohr:
»Wovon spricht er? Ich erinnere mich an nichts …«
»Das wundert mich nicht …«, gab er ebenso leise zurück. »Ich nehme an, hier liegen die Wurzeln zu Ihrem Trauma, und es ist offensichtlich, dass Sie, was immer damit zusammenhängt, zu Ihrem eigenen Schutz verdrängt haben.« Er schaute zu Vanderborg hinüber. »Wir reden später darüber«, sagte er zu mir und folgte dem alten Herrn ins Haus. »Kommen Sie!«
Im Haus war es dunkel und klamm, aber nicht nur deswegen empfand ich die Atmosphäre als bedrückend. Die Räume schienen unbeheizt zu sein. Nur in der Stube, die wir nun erreichten, glomm ein schwaches Feuer im Kamin. Davor stand ein Ohrensessel mit einem lose darübergeworfenen karierten Plaid. Vanderborg ließ sich darin nieder und legte sich sorgfältig die Decke über die Knie. Dann rieb er sich die Hände und bot auch uns an, Platz zu nehmen.
Lenz rückte zwei weitere Sessel an den Kamin, und als ich mich gesetzt hatte, zog mich das schwach flackernde Feuer magisch an. Es faszinierte und ängstigte mich zugleich. Wie alles in diesem großen Hause, das meiner lebendigen Sehnsucht nur Verfall und dumpfe Leere entgegensetzte. Lenz stocherte mit einem eisernen Schürhaken ein wenig im Kamin herum, sodass die Funken aufstoben, dann warf er ein dickes Buchenscheit in die glimmende Glut.
»Gleich wird es wärmer, Amanda«, meinte er fürsorglich. Obwohl ich von Wärme weit weniger abhängig war als er.
Lenz setzte sich nun ebenfalls und begann den alten Mann nach den anderen Bewohnern des Hauses zu befragen. Schnell stellte sich heraus, dass außer ihm niemand mehr hier war. »Und auch ich komme nur hin und wieder zu Besuch, um ein wenig nach dem Rechten zu sehen …«
Mir, und ich glaube auch Lenz, war sofort klar, dass er nur ihretwegen
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