Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
mich.
»Sie müsste tot sein, sie hat mindestens eine Stunde im See gelegen!«
Hustend richtete ich mich auf und Vanderborgs Augen begannen zu leuchten.
»Aber sie lebt, es ist ein Wunder, wie damals, als Estelle in den Karpaten vom Blitz getroffen wurde! Ja, sie lebt tatsächlich!«
»Ich gehe nicht zurück ins Irrenhaus«, wisperte ich, »warum lasst ihr mich nicht sterben?«
Lenz strich mir mit einer liebevollen Geste das nasse Haar aus dem Gesicht. Ganz nah lag ich an seiner Brust, spürte seine Körperwärme und fühlte das pulsierende Blut in seinen Adern. Jetzt davon trinken, Kraft tanken und davonlaufen … ungebunden wie ein wildes Tier … irgendwohin … hinaus in die Wälder … die nächtliche Welt … die Freiheit …
»Amanda, Sie müssen nicht sterben, warum haben Sie so wenig Vertrauen zu den Menschen, die Sie lieben? Wir werden eine Lösung finden … ich verspreche Ihnen, Sie müssen nicht zurück in die Anstalt …«
Ich glaubte ihm nicht, aber ich brachte es auch nicht über mich, ihn zu beißen … Warum? Weil seine Freundlichkeit und Worte wie Vertrauen und Liebe die Mordwerkzeuge der Bestie stumpf werden ließen?
Auf seinen starken Armen trug er mich zurück zum Gut, und nachdem ich ein warmes Bad genommen und mich in einen Morgenrock gewickelt hatte, setzten wir uns alle drei im Salon vor dem Kamin zusammen, um zu besprechen, wie es weitergehen sollte.
Nachdem ich Lenz auf so drastische Art vor Augen geführthatte, dass ich um keinen Preis wieder in die Klinik gehen würde, versuchte er mit Großvater Vanderborg eine andere Lösung zu finden.
»Ich merke, dass Amanda sich hier wohlfühlt, aber es wird mir nicht möglich sein, meiner Arbeit in Berlin nachzugehen und sie zugleich hier so intensiv zu betreuen, wie es nötig wäre. Alleine darf ich sie jedoch nicht zurücklassen, auch ist das Gut … nun … nicht im allerbesten Zustand, und ein junges Mädchen sollte etwas mehr Anteil am normalen Leben nehmen … und sie sollte an einem Ort sein, wo ich mich täglich um sie kümmern kann.«
Anders als erwartet rannte er bei Großvater Vanderborg offene Türen ein. So pflichtbewusst er auch immer eine Weile nach Blankensee herauskam, hauptsächlich getrieben von der Hoffnung, eines Tages doch Estelle hier wieder vorzufinden, so sehr zog es ihn auch selber zurück in die Hauptstadt, wo er seine Freunde und in der Brüderstraße seine komfortable Gemütlichkeit hatte. So schlug er also vor:
»Amanda kann zu mir nach Berlin ziehen. Meine Wohnung liegt in Sichtweite des Schlosses, im Zentrum des Lebens. Estelles Zimmer ist unberührt, und es wäre sicher ganz in ihrem Sinne, wenn dort ihre Tochter wohnen würde. Natürlich nur vorübergehend …«
Er sah mich an, bekam wieder diesen verlorenen Blick und ergänzte rasch: »… bis zu ihrer Rückkehr.«
Lenz griff diesen Vorschlag sofort begeistert auf.
»Das wäre großartig«, meinte er euphorisch. »Ich könnte meiner Arbeit in der Klinik nachgehen und in meiner freien Zeit die Psychoanalyse mit Amanda fortsetzen.« Er wandte sich an mich. »Würden Sie dem zustimmen?«
Hatte ich eine Wahl? Das Gut war alles andere als einheimeliger Hort, ohne Lenz und Vanderborg würde ich hier trotz der Natur sicher bald in Melancholie versinken und mich gänzlich verlieren. Berlin aber war die Hauptstadt, da pulsierte das Leben.
Ich erinnerte mich sehr gut, dass meine Eltern und Onkel Friedrich sehr oft nach Berlin gereist waren, und wenn sie von dort zurückkamen, waren sie stets voller neuer Eindrücke und von auffallender Vitalität. Immer hatte ich sie um diese Ausflüge beneidet, aber meine Mutter wies meine Bitte, sie begleiten zu dürfen, meistens zurück. Im Zoo waren wir einmal gewesen und auf dem Weihnachtsmarkt, aber dann, nach der Kriegserklärung, fuhr sie nur noch alleine, angeblich um nach dem Großvater zu sehen. »Berlin ist nichts für ein Kind«, meinte sie. »Es ist Garnisonsstadt mit vielen Soldaten und fremden Menschen. Gertrud ist nicht ohne Grund mit ihrer Familie zu uns gezogen. Also, sei zufrieden, dass du hier in Frieden leben kannst, fern von den Gefahren der Großstadt. Mich treibt die Pflicht dorthin, sonst bliebe ich gewisslich lieber ebenfalls hier.«
Natürlich stimmte ich dem Vorschlag zu. Doch vorher hatte ich in Blankensee noch etwas zu erledigen, wobei mir die Unterstützung von Lenz sehr wichtig war. Ich wollte mein Mädchen Rieke treffen und mich bei ihm für meine blutrünstige Attacke
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