Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
enthusiastisch und erinnerte mich daran, dass auch auf Blankensee, vor dem Krieg, einige Male zu Silvester ein kleines Feuerwerk stattgefunden hatte, von dem ich als Kind sehr fasziniert gewesen war. Von dieser Faszination hatte sich nichts verloren. Als auch wir auf der Terrasse ankamen, stand ich bald mit glänzenden Augen da und stieß bei jedem Silberregen oder Sternenschauer die gleichen jubelnden und staunenden Ahs und Ohs aus wie damals. Das amüsierte Lenz sehr und es ermunterte ihn, mich wieder in seine Arme zu ziehen, und so lehnte ich bald mit dem Kopf an seiner Schulter und starrte gebannt den Raketen nach, die eine nach der anderen zerplatzten und einen bunten Traum aus Lichtern und Farben an den Himmel malten.
Es war einer der wunderbarsten, stimmungsvollsten und glücklichsten Augenblicke in meinem Leben, und dann zerstörte Lenz alles, indem er leise sagte: »Amanda, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«
Bei der nächsten Sitzung im neuen Jahr tat Conrad dann allerdings, als hätte dieses intime Geständnis nie stattgefunden, blieb lediglich beim Du und setzte mit seiner Analyse da an, wo wir zuvor aufgehört hatten. Er versuchte mir zu erklären, warum die Triebe in Freuds Theorie eine so wichtige Rolle spielten. Da sie das in meinem Leben ganz offensichtlich auch taten, interessierte mich das Thema natürlich brennend.
»Ich weiß, es gibt Wissenschaftler, wie etwa August Forel,den Leiter des Burghölzli, die Freud eine Sexualisierung des menschlichen Trieblebens vorwerfen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Libido diejenige psychische Energie ist, welche das seelische Geschehen dynamisch in Gang hält. Wenn wir verstehen wollen, wie Verdrängung funktioniert, müssen wir erst einmal lernen, wie Triebbefriedigung abläuft.«
»Und wie läuft sie ab?«, konnte ich mich trotz meiner Vorsätze nicht zurückhalten zu fragen.
Lenz lächelte.
»Ich habe es dir schon am Beispiel des Kleinkindes zu erklären versucht. Erinnerst du dich? Was immer animalisch triebhaft aus uns hervorbricht, wir alle müssen lernen, diese Regungen mit den moralischen Grundsätzen und den Erfordernissen der Realität in Einklang zu bringen.«
Ich starrte ihn fragend an. Ob das auch für Liebesgeständnisse im angetrunkenen Zustand galt? Moralisch nicht vertretbar und völlig unrealistisch? Hatte seine Liebeserklärung den Realitätsabgleich bereits hinter sich und schwieg er deswegen dazu?
Ich zwang meine Aufmerksamkeit, zu ihm zurückzukehren. Was sagte er da gerade über Verdrängung?
»Schau, Amanda, Verdrängung heißt, dass man Probleme nicht löst, sondern in einer Art Selbstbetrug einfach ins Unterbewusstsein abschiebt. Da liegen sie dann und tun einem nicht mehr direkt weh. Sie können allerdings dennoch dauerhaft einen unheilvollen Einfluss auf das Verhalten ausüben. Das beeinflusst natürlich die Psyche und führt schließlich zu einer Neurose mit den entsprechenden Zwangshandlungen. Bei dir zum Beispiel zu dem Drang, in Situationen, die dich überfordern, Menschen zu beißen.«
Er sah mich nachdenklich an. »Wenn ich nur irgendeinenAnhaltspunkt hätte, wann und warum du dich überfordert fühlst, dann könnte man diese Situationen vermeiden, bevor du zu dieser animalischen Angstabwehr greifst. Aber die Situationen sind so unterschiedlich, ich kann in ihnen kein Muster erkennen. Die Sache mit dem Huhn, der Angriff auf den Pfleger, der Überfall auf Rieke, die nicht nur dein Dienstmädchen, sondern auch eine Freundin war … das ergibt alles keinen Sinn …«
Nun sah er richtig unglücklich aus und es tat mir aufrichtig leid, dass ich offensichtlich ein so komplizierter Fall war. Als er ging, war ich ziemlich ärgerlich, dass die Sitzung so unbefriedigend verlaufen war, denn ich hätte zu gerne noch etwas konkreter mit ihm über die Libido gesprochen und ihn gefragt, ob er das aufregend unanständige Buch, das ich gelesen hatte, auch kannte und was er davon hielt? Andererseits war es, nachdem was Silvester zwischen uns vorgefallen war, wohl besser, an dieses Thema nicht zu rühren. Es war einfach … zu gefährlich!
G
anz Berlin sprach seit Wochen von dem neuen Film von Friedrich Wilhelm Murnau, der mit einem nie gesehenen Werbeaufwand publik gemacht wurde. Da Vanderborg jeder Form von Illusionskünsten verfallen war, lud er mich ein, ihn in den Berliner Marmorpalast zu begleiten, um der Uraufführung beizuwohnen, die unter dem Motto »Das Fest des Nosferatu« stand und das
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