Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
entsetzlichen Krallen angewachsen. Automatisch glitt mein Blick zu Onkel Friedrichs Händen. Nichts, alles normal, gepflegte, schlanke Hände mit sorgfältig manikürten Nägeln, bis auf den rechten Mittelfinger, an dem er sich offenbar einen längeren krallenartigen Nagel herangezüchtet hatte. Zu welchem Zweck wohl?
Ich betrachtete erneut sein Gesicht. Es wirkte ausgemergelt, als hätte er eine entbehrungsreiche Zeit hinter sich. Ein dunkler Schnurrbart überwucherte die Oberlippe und unterbrach die scharfen Falten, die sich von der Nase zu den Mundwinkeln zogen. Trotz des entspannten Eindrucks, den sein Körper machte, wirkte Friedrich nicht glücklich. Eine tiefe, dumpfe Traurigkeit schien ihn einzuhüllen.
Ich erinnerte mich, dass er irgendwann im Krieg verletzt und blind nach Blankensee zurückgekehrt war. Da trug er die gleiche Traurigkeit wie einen Mantel. Er war so verzweifelt, und ich war noch zu jung, um zu begreifen, was es heißt, nicht mehr sehen zu können. Ich fürchtete mich damals vor ihm, denn wenn er einmal meine Hand hielt, dann ließ er sie nicht mehr los und drückte sie so fest, dass es mir wehtat.
Ich schenkte ihm eine Katze, damit er etwas Lebendiges spüren konnte … so kaufte ich mich frei … aber es war nicht, weil ich ihn nicht liebte oder ihm nicht helfen wollte … es war, weil ermir Angst machte und mir niemand erklärte, was wirklich mit ihm los war …
Immer haben mich alle schonen wollen und haben gerade dadurch alles für mich viel schlimmer gemacht. Ich wollte nicht geschont werden, ich wollte verstehen!
Ich beugte mich über Friedrich und berührte seine eingefallene Wange mit meinen Lippen, dabei flehte ich inständig:
»Sei nicht tot, Onkel Friedrich, bitte, sei nicht tot!«
Nichts geschah. Aber wenn er ein Vampir war, dann musste es einen Weg geben, ihn wieder ins Leben zurückzuholen.
Graf Orlok hatte sich in seinen Sarg schlafen gelegt und war irgendwann von selber wieder aufgewacht. Jedenfalls erinnerte ich mich an keinen Wecker. Wie fand er den Weg aus der Erstarrung? Warum war er erwacht? Was konnte Friedrich erwecken? Mir fiel ein, dass ich in der Anstalt in eine ähnliche Starre verfallen war, in der sämtliche Lebensfunktionen herabgeschraubt waren, und ich erinnerte mich, was mich aus dieser Katatonie geweckt hatte: Blut!
Natürlich, ich musste Friedrich Blut besorgen. Aber außer mir und Lenz war niemand auf dem Gut. Also Conrad opfern? Der Gedanke war mir zuwider. Daher blieb nur noch ich selbst.
Ohne weiteres Zögern beugte ich mich zu Friedrich hinunter, ergriff seine rechte Hand und ritzte mir mit der Kralle seines Mittelfingers den Arm auf, und als das Blut schwärzlich hervorquoll, benetzte ich damit seine Lippen.
Kurz darauf ging ein konvulsivisches Zucken durch seinen ganzen Körper, so wie ich es von den Elektroschocks kannte. Heftige Krämpfe schüttelten ihn wie ein epileptischerAnfall. Roter Schaum trat aus seinem Mund. Verschreckt zuckte ich vom Bett zurück. Was ich dann erlebte, werde ich nie vergessen, denn es war das Faszinierendste und Schönste, was ich je gesehen hatte. Friedrich fiel auf das Lager zurück und begann von innen heraus zu leuchten. Dieses Leuchten hüllte ihn wie eine Aura vollkommen ein, dann erhob es sich in wechselndem Farbenspiel über ihn, bündelte sich zu einem unglaublich hellen Energiestrahl und fuhr zischend zurück in seinen Körper.
Friedrich durchlief ein Zittern, dann schlug er die Augen auf.
»Estelle!«, war sein erstes Wort, und obwohl er nicht mich beim Namen genannt hatte, sondern meine Mutter, durchströmte mich ein unglaubliches Glücksgefühl.
Friedrich war erwacht! Er war zurück bei mir auf Blankensee!
»Amanda«, korrigierte ich ihn sanft. »Ich bin Amanda, Estelles Tochter. Deine Nichte, Onkel Friedrich.«
Ich reichte ihm meine Hand und half ihm sich aufzusetzen. Sein offenes Hemd gab ihm einen abenteuerlichen und verwegenen Ausdruck, aber er wirkte im Gegensatz zu mir, die ich leidlich frisches Blut in mir hatte, bleich und geschwächt.
Auch sein Bewusstsein schien nur sehr langsam wieder zurückzukehren. Natürlich war mir klar, dass er Zeit brauchte und Ruhe, um sich zu fassen, aber bald konnte ich meine Neugier nicht mehr zurückhalten.
»Wie kommst du hierher, Onkel Friedrich?«, wollte ich wissen. »Schläfst du schon lange an diesem Ort?«
Er sah mich forschend an und meinte dann mit dem Anflug eines Lächelns: »Wenn du tatsächlich Amanda bist, dann habe ich wohl
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