Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
bist. Allerdings hattest du ja immer schon einen Hang zum Konkreten und dein Handeln war meistens ohne Umschweife. Das zarte, zögerliche Wesen deiner Mutter hast du jedenfalls nicht geerbt.«
Ich lachte. »Dann muss mein Vater wohl ein ziemlicher Draufgänger gewesen sein.« Und ernster fügte ich hinzu: »Onkel Friedrich, wenn du wüsstest, wo ich die letzten Jahre verbracht habe, dann würdest du verstehen, dass für mich nur eine Frage wichtig ist: Wie kann ich überleben?«
Friedrich nickte verständnisvoll.
»So ging es an der Front auch mir. Es ist die natürliche Maxime einer Gattung von Lebewesen, die, von aller Welt verfolgt, dennoch ihre Daseinsberechtigung behaupten will. Dafür musst du dich wirklich nicht schämen.«
Natürlich wollte Friedrich wissen, worauf sich meine dunkle Andeutung bezog, und so erzählte ich ihm, was ich in der Irrenanstalt hatte ertragen müssen.
Friedrich geriet darüber regelrecht in Wut, auf Professor Müller-Wagner und die Anstalt, aber ganz besonders auf seinen Bruder.
»Dass es Hansmann war, der dich dort einweisen ließ, wundert mich nicht«, sagte er mit kaum zurückgehaltenem Zorn. »Er war schon immer scharf auf das Gut, und nach dem Bankrott seines Kolonialwarenhandels neidete er Estelle ihr Vermögen. Wenn er, wie du sagst, nach wie vor dem Bankhaus in Berlin vorsteht und sich bräsig in der Villa breitmacht, sollten wir ihm demnächst mal einen Besuch abstatten, denn er prahlt mit Estelles und deinem Eigentum.«
Ich nahm an, dass er auf die Ehe meiner Mutter mit Karolus Utz anspielte. Wie ein Schlag hatte mich die Chronikeintragung darüber getroffen.
»Was, was meinst du denn damit genau?«, stammelte ich, verwirrt über die plötzliche Schärfe in seinem Ton.
»Dass du, rein rechtlich betrachtet, in der Ehe deiner Mutter mit Karolus Utz geboren bist und Utz darum dein gesetzlicher Vater ist. Das heißt, dass dir sein Vermögen gehört, wenn er und Estelle verschwunden bleiben.«
Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und immer und immer wieder wehrte ich die Vorstellung ab, dass meine Mutter mit Amadeus ein Kind gezeugt hatte, aber zugleich mit einem anderen, diesem Utz, das Ehebett teilte. Das konnte nicht sein, das hätte allen ihren moralischen Grundsätzen widersprochen.
Friedrich schien zu ahnen, was mich gerade zerriss. »Amanda«, sagte er, »es tut mir leid, ich wollte dich damit nicht so unvorbereitet konfrontieren. Hat Estelle denn nie eine entsprechende Andeutung gemacht?«
Ich schüttelte den Kopf und merkte, wie mir Tränen indie Augen traten. »Nichts hat sie gesagt. Kein Sterbenswort. Erst aus der Chronik habe ich es erfahren. Wie konnte sie so ein Doppelleben führen? Und wie konnte Amadeus so etwas dulden?«
Friedrich fiel es sichtlich schwer, mir die offenbar komplizierten Zusammenhänge in wenigen Sätzen zu erklären ohne mich noch weiter zu verletzen.
»Utz hatte Schuldverschreibungen deines Großvaters in seinem Besitz und hätte die ganze Familie in den Ruin getrieben, wenn sie das Eheversprechen nicht eingelöst hätte. So heiratete sie Utz, obwohl sie Amadeus liebte. Die Ehe wurde jedoch nie vollzogen und Estelle versuchte später sie annullieren zu lassen, dann jedoch kam der Krieg, und jeder, der Estelle liebte, hoffte, dass Utz daraus nie wieder zurückkehren würde. Leider kam es anders.«
Es wäre vermessen gewesen, wenn ich behauptet hätte, auch nur ansatzweise die Tragik erfasst zu haben, die hinter diesen nüchternen Worten stand. Aber sosehr mich auch ihre emotionalen Schilderungen beim Lesen der Chronik berührt hatten, in diesem Punkt war ich mit meiner Mutter überhaupt nicht einig. Selbst wenn sie es für die Familie getan hatte, empfand ich ihr Handeln als verwerflich und Betrug an beiden Männern. So war es gut, dass Friedrich versprach, mit mir noch einmal in Ruhe darüber zu reden.
»Auch wenn du jetzt vielleicht an deiner Mutter zweifelst, Amanda, an einem darfst du niemals zweifeln, daran, dass sie deinen Vater über alles geliebt hat. Und du bist als sein Kind in diese Liebe von deiner Geburt an eingeschlossen gewesen.«
Ich mochte dazu nichts mehr sagen, denn es war offensichtlich, dass Estelle Friedrich in ihre Zweifel bezüglich der Vaterschaft nicht eingeweiht hatte.
Ich beschloss also, das Thema fürs Erste zu beenden, denn es trübte mir die Freude über das Wiedersehen ganz erheblich.
»Fühlst du dich stark genug, mit hinauf ins Gutshaus zu kommen? Ich bin mit einem Freund hier, einem
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