Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
mindestens ein paar Jahre hier geruht.Du bist eine junge Frau geworden und warst doch damals noch ein Kind …?«
Damals, damit musste er den Tag meinen, an dem er meiner Mutter die Nachricht vom Tod meines Vaters überbracht hatte. Er war geradewegs von der Front zu uns gereist und hatte ihr die Erkennungsmarke von Amadeus in die kalte Hand gedrückt.
Sie hatte sie nicht mehr losgelassen …
Und kaum war Friedrich wieder zurück an die Front gegangen, war sie plötzlich verschwunden. Ohne ein einziges Wort des Abschieds. Tat eine Mutter das, einfach fortgehen und ihr Kind zurücklassen? Gab es einen Schmerz, der so groß war, dass sie darüber alles andere vergaß?
Mittlerweile stand es für mich nahezu außer Frage, dass sie sich in ihrer Verzweiflung über den Tod meines Vaters das Leben genommen hatte. Irgendwo, wo niemand sie jemals finden würde. Vielleicht war sie tatsächlich, wie sie es oft überlegt hatte, in die Sonne gegangen, und niemand hatte die Asche, die von ihr übrig geblieben war, mit seinen Händen aufgesammelt. Denn es war niemand da, der ihr diesen letzten Liebesdienst tun konnte. Der Gedanke schmerzte mich zutiefst, aber ich verstand sie. Doch dass sie es ohne eine Zeile in der Chronik oder ein Wort des Abschieds für mich getan hatte, war unverzeihlich. Gewissheit wäre mir so wichtig gewesen, um mit ihr meinen Frieden zu machen.
»Wann und wie bist du hierhergekommen, Onkel Friedrich?«, wiederholte ich meine Frage.
Mein Onkel erhob sich mit steifen Gliedern und ging hinüber in das angeschlossene Badezimmer.
»Gib mir ein paar Minuten, Amanda, dann komme ich in den Salon und werde dir alles berichten.«
Der Wink war deutlich und so ließ ich ihn allein. Es lagnahe, dass Onkel Friedrich, der stets viel Wert auf ein tadelloses Auftreten gelegt hatte, sich so aus dem Schlaf gerissen in der Gegenwart einer jungen Dame etwas, nun sagen wir, unwohl fühlte, solange er nicht sein Aussehen überprüft und gegebenenfalls in Ordnung gebracht hatte.
Ich machte es mir im Salon in einem der weichen Sessel bequem und blätterte in einer etwas vergilbten Ausgabe der Berliner Illustrirten Zeitung aus dem Jahre 1919, die auf dem Tisch gelegen hatte. So lange war also schon niemand mehr hier unten gewesen. Der Kaiser hatte abgedankt, der Krieg war beendet, der Versailler Vertrag unterzeichnet, die Kriegsgefangenen aus Frankreich wurden in die Heimat entlassen. Deutschland war eine Republik. Ich hatte von alldem in der Anstalt nichts erfahren, und erst als Großvater Vanderborg begann, mir Zeitungen und Flugblätter mitzubringen und regelmäßig mit Lenz über Politik und Wirtschaft zu diskutieren, gewann ich zumindest einen kleinen Einblick in die momentanen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Sie zeichneten sich vorrangig durch Probleme auf allen Ebenen aus, was mein Interesse deutlich dämpfte, da ich davon selber genug hatte.
Als sich Friedrich zu mir setzte, war er ordentlich frisiert und roch nach einem feinen Herrenparfüm.
»Du siehst entzückend aus, Amanda«, machte er mir gleich ein Kompliment, »und sehr gesund.«
Ich lachte.
»Wenn du auf meinen rosigen Teint anspielst, so muss ich dir gestehen, dass ich erst kürzlich überaus delikat und nahrhaft gespeist habe.«
Friedrich trat der Schalk in die Augenwinkeln, als er realisierte, was ich da gerade gesagt hatte.
»Dann bist du nun also auch ein Vampir und ich darf dich im Club willkommen heißen?«
Ich nickte.
»Seit wann weißt du es?«
»Seit einer Filmvorführung hatte ich einen Verdacht, der zur Gewissheit wurde, als ich die Chronik der Familie Vanderborg fand. Wusstest du, dass meine Mutter sich als Chronistin betätigt hat?«
Er schüttelte den Kopf.
»Du musst sie lesen«, sagte ich, »es ist eine Chronik des dunklen Zweigs.«
Dann erzählte ich ihm von dem Fest des Nosferatu .
»Der Film war es auch, der mich hierhergeführt hat, denn ich träumte von einer Szene, die ich darin gesehen hatte, und sie erinnerte mich ganz plötzlich an das Geheime Gewölbe. So fand ich dich. Alles Weitere war reine Intuition.«
»Schneidig!«, sagte Onkel Friedrich im Militärjargon. »Ich schätze Frauen mit Intuition. Die hatte deine Mutter auch.« Er sah mich fragend an.
»Wo ist Estelle? Wo seid ihr überhaupt alle gewesen, als ich nach der Unterzeichnung des Friedens von Versailles aus der Gefangenschaft in Frankreich entlassen wurde. Ich fand das Haus wie ausgestorben vor.«
Das war es auch noch gewesen, als ich mit Lenz vor
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