Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
und hatte es doch getragen.
So beschloss ich, ihrem Beispiel zu folgen und das Kleid zu akzeptieren. Als ich mich darin vor dem raumhohen, goldgerahmten Spiegel im Zimmer betrachtete, sah mir daraus eine mittelalterliche Schönheit aus offensichtlich gutem Hause entgegen. Denn das Kleid war zwar freizügig im Schnitt, aber aus edlen Stoffen gefertigt und mit kostbaren Kordeln und Bordüren besetzt. Es war weinrot. Weiß und rein lag mein Busen im offenen Dekolleté, was für eine Abendgesellschaft gerade noch angehen mochte, mir aber dennoch etwas unangenehm war, weil ich ungern so freizügig dem Radke und Utz unter die Augen kommen wollte. Ihre Blicke auf meinem Busen zu fühlen war mir ein ganz und gar widerlicher Gedanke. Aber da ich keine Wahl hatte, musste ich das Kleid zum Bankett tragen. Auch Großvater Vanderborg hatte ein mittelalterliches Kostüm erhalten und trug Beinkleider und Wams mit Würde. Wenn ich ganz ehrlich war, spreizte er sich geradezu wie ein Gockel und sprühte vor Begeisterung und Vorfreude. Lange hatte ich ihn nicht mehr so vital erlebt.
»Ein mittelalterliches Bankett«, jubelte er, »was für eine zauberhafte Idee, so passend an diesem Ort! Darin erkenne ich die Handschrift meiner Estelle! Das Kind hat Sinn für romantische Inszenierungen.«
Worauf mir dann doch eine sarkastische Bemerkung herausrutschte:
»Dann hoffe ich mal, dass der Abend nicht in einer mittelalterlichen Folterkammer endet, nur weil das ebenfalls passend wäre.«
Aber auch das schien ihm nicht im Mindesten zu Bedenken Anlass zu geben, vielmehr ließ er angesichts dieser überwältigenden Gastfreundschaft nun jegliche Vorsicht außer Acht.
»Du wirst sehen, Amanda, alles wird gut. Estelle hat sich gewiss mit Utz ausgesöhnt und nur du als ihre gemeinsame Tochter fehlst ihnen noch zu ihrem Glück. Wie schön, dass ich diese Familienzusammenführung miterleben darf.«
Ich konnte seine Gutgläubigkeit nicht fassen und so ermahnte ich ihn: »Denk aber wenigstens an die Kruzifixe.« Kopfschüttelnd ging er darauf zurück in sein Zimmer und murmelte: »Mystischer Schnickschnack … wozu soll das gut sein?«
Ich rannte hinter ihm her, erreichte ihn noch vor seiner Zimmertür und flüsterte: »Es ist ganz egal, was du denkst! Es ist abgemacht, also wappne dich damit, versprich es mir. Wir alle verlassen uns darauf.«
Er war sichtlich verwundert über meine Beharrlichkeit in dieser Sache und versprach mir daher mit einem Schulterzucken, dass er alles so machen würde, wie es besprochen war. Aufatmend ging ich zurück in mein Zimmer, um meine Haare noch ein wenig mittelalterlich zu frisieren.
Das fehlte noch, dass wir uns ohne jeden Schutz dem Utz in die Klauen warfen!
D
as Dinner fand an einer langen Tafel in einem prächtigen Bankettsaal statt, an dessen Wänden kostbare mittelalterliche Wandteppiche und die Ahnengalerie der Grafen von Przytulek in Öl hingen. Letztere wirkten nichtgerade appetitanregend auf mich, aber ich musste ja ohnehin nicht essen.
Zwei Mädchen in mittelalterlichen Schürzenkleidern und mit offenherzigen Dekolletés wiesen uns Plätze am unteren Ende der Tafel an. Am Kopfende war ebenfalls für zwei Personen gedeckt, und angesichts der prächtigen thronartigen Stühle, die dort standen, nahm ich an, dass Utz dort mit meiner Mutter Platz nehmen würde. Zwei riesige weiße Uhus hockten links und rechts davon auf goldenen Ständern, nur von einer Kette an einem ihrer mächtigen Krallenfüße dort gehalten. Ihre Augen waren bernsteingelb und schwarz geschlitzt und wirkten außerordentlich bedrohlich.
Drei junge Frauen in weißen fließenden, fast durchsichtigen Gewändern saßen seitlich daneben auf einem kleinen Podest und klimperten auf ihren Lauten herum. Es klang grauenvoll und war somit offenbar authentisch mittelalterlich.
Radke hatte ein Gedeck in der Mitte des Tisches, sodass er problemlos sowohl mit seinem Herrn und Meister als auch mit uns Konversation pflegen konnte. Das hieß, dass Utz ihm von vornherein eine Mittlerrolle zugedacht hatte. Dies verstärkte mein Gefühl, trotz allem auf der Hut sein zu müssen.
Wir hatten kaum Platz genommen, als in Windeseile von dienstbaren Geistern Speisen und Getränke aufgefahren wurden. Als die Tafel nahezu überquoll von Spezereien, ertönte eine Fanfare und Utz erschien durch eine Tür am Kopfende des Saales. Sein Auftritt war eines mittelalterlichen Fürsten würdig, der Fanfare hätte es nicht einmal bedurft. Man musste es ihm lassen, er
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