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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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Weh
    Weht durch ihn der Frühlingshauch
    Schmilzt der kalte Schnee
    Küsst er mich viel tausend Mal
    Ach, es ist die höchste Qual
    Schlägt mit Ruten meine Brust
    Ach, es ist die höchste Lust …«
     
    Ich fragte mich noch, was sie damit wohl sagen wollte, und fand es reichlich zynisch, um nicht zu sagen pervers vonUtz, ein junges Mädchen so etwas für seine Gäste singen zu lassen, zumal auch ich ein junges Mädchen war und diese Art von Erotik mich eher verstörte. Dem Großvater schien der Gesang ebenfalls nicht zu gefallen und er wollte sich wohl gerade darüber beschweren, als erneut eine Fanfare ertönte.
    Ich sah zum Kopfende der Tafel hinüber und zischte ihm zu: »Warte ab, wenn du mich fragst, ist das Tänzchen soeben eröffnet worden. Sei wachsam!«
    Ich fühlte den Blick von Utz auf uns, und so fuhr ich zurück und beschäftigte mich auffällig unauffällig mit der Tischdekoration, die aus Früchten, Kohlköpfen und anderem Gemüse sowie im Federkleid und Fell belassenem Geflügel und Wild kunstvoll arrangiert war, darunter Fasanen, Rebhühner, Hasen und Federvieh, das ich noch nie gesehen hatte. Ich begann gerade eine prächtige Feder aus dem Fasan vor mir zu ziehen, als sie tatsächlich eintrat:
    Meine Mutter Estelle!
    Sie trug ein bodenlanges goldfarbenes Kleid und ihr Kopf war schwarz verschleiert. Sehr langsam schritt sie zu dem zweiten Prunkstuhl und ließ sich darauf nieder. Ihre Haltung war außerordentlich aufrecht, um nicht zu sagen steif.
    Atemlos hatte ich ihren Auftritt verfolgt und gespürt, wie mein Herz ihr zuflog. Was immer zwischen uns gewesen war, ich fühlte, hier war meine Mutter, der all meine Liebe gehörte, immer gehört hatte.
    Utz hatte sich erhoben. Er ergriff einen Zipfel des Schleiers, und mit einer herrischen Geste und den Worten »Begrüßen Sie meine geliebte Gattin Estelle!«, riss er ihr das Tuch vom Gesicht. Das Entsetzen fraß sich durch meine Augen bis in mein Gehirn und von da aus in meine Seele.
     
    D
ie Frau an Utz’ Seite war unverkennbar meine Mutter, aber sie war um Jahrzehnte, wenn nicht um Jahrhunderte gealtert. Ich blickte in das vertrocknete Gesicht einer Mumie.
    Das Haar schlohweiß und schütter, der Schädel an einigen Stellen kahl, die Haut gelblich und wie faltiges Pergament über die hohen Wangenknochen gespannt, die vormals vollen Lippen verdorrt, die Zähne schwarz verfault und aus tiefen dunklen Höhlen sahen mich tote Augen an. Für einen Moment umklammerten sich unsere Seelen wie mit Händen, und in einer grauenvollen Offenbarung erlebte ich die tausend Tode, die sie in der Gewalt von Utz gestorben war.
     
    Großvater Vanderborg war beim Anblick seiner Tochter mit einer Herzattacke zusammengebrochen, und auch ich war bis ins Mark erschüttert und einer Ohnmacht nahe. Dennoch versuchte ich mich um ihn zu kümmern und reichte ihm ein Glas Wasser, das er mit zittrigen Händen leer trank. Er wirkte plötzlich sehr alt und zerbrechlich, und ich glaubte nicht mehr, dass er mir die Hilfe geben konnte, die ich brauchte, um diesen Raum mit meiner Mutter jemals wieder lebend verlassen zu können. Ich griff nach meinem Glas und trank in der verzweifelten Hoffnung, dass es mir helfen würde, den letzten darin befindlichen Schluck Blut. Ich war heillos aufgewühlt, und als wäre der entsetzliche Anblick meiner Mutter nicht schon Folter genug, dröhnte mir auch noch das höhnische Lachen von Utz in den Ohren, das mit einem gackernden Kichern von Radke untermalt war.
    Das Blut tat seine Wirkung und mir ging es ein wenig besser. Dennoch wagte ich nicht, nach vorne an das Kopfendeder Tafel zu schauen, und auch vom Großvater war kein Trost zu erlangen, denn er versank in seinem eigenen Schmerz über das erschütternde Schicksal seiner Tochter. Ich fühlte, wie mir Tränen des Kummers und des Zorns über das Gesicht liefen, und ich musste an mich halten, damit ich mich nicht auf Utz stürzte.
    Großvater Vanderborgs Zustand schien sich ein wenig stabilisiert zu haben, aber keiner von uns war mehr in der Lage, so zu tun, als seien wir gern gesehene Gäste einer normalen Familienfeier.
    Die Karten waren gemischt und das Blatt lag offen auf dem Tisch und es zeigte den Tod. Utz oder wir – eine andere Alternative gab es nicht.
     
    »Was sollen wir tun?«, wisperte ich noch völlig unter Schock stehend. »Wir kommen hier nie mehr wieder raus! Estelle wird uns keine Hilfe sein können in ihrem Zustand.«
    Aber meine Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen, als

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