Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
»Es wird von innen verriegelt sein«, kombinierte Lenz.
»Gibt es keine Glocke oder einen Türklopfer?«, fragte Großvater Vanderborg. Doch, beides wurde entdeckt, und auf unser Klopfen und Gebimmel öffnete sich wie von Geisterhand quietschend und knarrend tatsächlich das Tor. Allerdings nur einen Spaltbreit, gerade so, dass sich ein Mensch mit normalem Körperumfang hindurchzwängen konnte. Der verfettete Wirt wäre zweifelsohne darin stecken geblieben.
Wir zögerten. Erstens weil das nicht gerade einladend wirkte und zweitens weil wir natürlich die möglicherweise dahinterliegende Gefahr fürchteten.
Es war dann Vanderborg, der seine Erregung darüber, schon in wenigen Augenblicken vielleicht seiner tot geglaubten Tochter Estelle gegenüberzustehen, nicht mehr bändigen konnte und forsch vorwärtsstürmte. Ich verabschiedete Conrad noch rasch und folgte ihm auf dem Fuße.
Wenig später standen wir in der imposanten Eingangshalle der Burg.
Sie war leer, verstaubt und von unzähligen Spinngeweben eingesponnen und strömte das gediegene Aroma alteingesessenen Moders aus. Kein Wesen war zu unserem Empfang zu sehen.
»Eine seltsame Art, mit Gästen umzugehen«, bemerkte der Großvater. »Kann man sicher sein, dass dieses Anwesen die richtige Adresse ist? Es scheint seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten unbewohnt zu sein.«
Den Eindruck machte die Burg in der Tat, aber ich gab zu bedenken, dass der äußere Eindruck oft trüge und man berücksichtigen müsse, dass seit der Einladung über ein halbes Jahr vergangen sei. »Man kann wohl nicht erwarten, dass man jeden Tag auf unser Kommen eingestellt ist.«
»Wahr gesprochen, wertes Fräulein!«, ertönte plötzlich eine vertraute Stimme über unseren Köpfen. Sie kam von einer dunklen Gestalt auf der imposanten Galerie, welche die Eingangshalle auf der gesamten rechten Seite umlief.
»Willkommen auf Burg Przytulek – wir hatten in der Tat mit Ihrem Besuch schon nicht mehr gerechnet. Doch sind wir hocherfreut.«
Radke, dachte ich, so schleimig sprach nur er. Er trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege und wirkte wie ein Butler in englischen Stummfilmen. Flinken Schrittes schritt er die schmale gewendelte Treppe herunter.
»Wie haben Sie hergefunden?«, fragte er, und als ich ihm erklärte, dass wir einen Fahrer gefunden hätten, wandte er sich dem Gepäck zu, während der Großvater sofort wissen wollte:
»Wo ist meine Tochter?«
»Sie wird Sie empfangen, sobald Sie Ihre Zimmer bezogen haben und sich von der – wie ich annehme – anstrengenden Reise etwas erholt und frisch gemacht haben.«
Radke sah mich mit spekulativem Blick an.
»Wünschen Sie einen kleinen Imbiss aufs Zimmer?«
Täuschte ich mich oder hatte er das Wort Biss besonders betont? Könnte es sein, dass auch er ein Vampir war?
Der Großvater nahm Radkes Angebot jedoch mit überschwänglichem Dank an. Um nicht unhöflich zu erscheinen und unsere Einheit zu demonstrieren, blieb mir nichtsanderes übrig, als ihm und Radke zu den Gästezimmern zu folgen. Es war bereits Abend und wohl niemandem plausibel zu machen, dass wir extra von Berlin angereist waren, um nach einer Tasse Tee mit Estelle wieder abzureisen.
»Wir können das Gepäck anschließend heraufbringen lassen«, meinte Radke entgegenkommend. Dennoch hatte seine Höflichkeit für mich einen falschen Zungenschlag, und auf dem Weg zu den Zimmern wurde ich mir immer sicherer, dass er ein Vampir war. Ich verspürte in seiner Nähe eine seltsame Aura, und da ich glaubte, in der Chronik gelesen zu haben, dass Amadeus ihn während des Krieges getötet hatte, er aber offensichtlich lebte, musste ihn jemand wiedererweckt haben … Aber wenn ich ihn als Vampir erkannte, dann würde er ebenfalls wissen, dass ich von der gleichen Art war. So beschloss ich, ganz besonders auf der Hut zu sein, und hoffte inständig, dass Friedrich und Conrad uns wie geplant schnellstens und unbeobachtet folgen konnten.
Seit ich die Burg betreten hatte, waren alle meine Sinne in Alarmbereitschaft versetzt und aufs Äußerste geschärft, jeden Moment erwartete ich einen heimtückischen Anschlag, denn zu unheimlich hatten Friedrichs Schilderungen geklungen. Doch alles blieb ruhig, nur eine dumpfe, kaum fassbare Bedrohung hing unsichtbar in der Luft und machte mir das Atmen schwer. Auch Großvater Vanderborg hustete, als wir einen dunklen, fensterlosen Flur betraten, der nur von einigen Fackeln erhellt war und von dem zahlreiche Türen
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