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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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mitbekam.
    Von rufschädigendem Verhalten war die Rede, von Ballverbot und unsittlichem Auftreten in der Öffentlichkeit.
    »Estelle ist unsere Schwester«, sagte Hansmann hochrot im Gesicht und aufgebracht zu Friedrich, »mir scheint, das verlierst du aus dem Sinn bei deiner ungesunden, um nicht zu sagen perversen, Verehrung für sie. Man fragt sich in Berlin schon, ob sie nicht deine Geliebte ist?«
    Friedrich ging ihm an die Gurgel. »Das sag noch einmal und du bist ein toter Mann!«, schrie er außer sich.
    Aber Vanderborg trat zwischen seine Söhne und zog Friedrich am Rock von Hansmann fort. Er versuchte die Wogen zu glätten, indem er Hansmann vorwarf, einem dummen Gerücht Glauben zu schenken. »Sieh deine Schwester an, sie ist ein unschuldiges Kind, Friedrich würde sich nie an ihr vergreifen.«
    Und zu Friedrich sagte er: »Ich weiß, dass du Estelle von klein auf ein Beschützer warst und dass euch eine ganz besondere Geschwisterliebe verbindet. Doch sie ist kein Kind mehr und es ist nun an der Zeit, dass ihr euer Verhältnis auf eine andere, erwachsene und distanziertere Basis stellt.«
    Und schließlich meinte er zu mir: »Und du, mein Kind, bist eine junge Frau geworden, und es wird Zeit für dich, Friedrich in seine Schranken zu weisen und deine Tänze auch anderen jungen Männern zu schenken. Es wäre ziemlicher, dich nach einem angemessenen Freier umzusehen, statt für unsittliche Gerüchte die Nahrung abzugeben …«
    »Niemals!«, entfuhr es mir, doch Hansmann pflichtete dem Vater bei und sagte: »Lass dir von Friedrichs Egoismus, der sich nur mit deiner Schönheit schmücken will, nicht alle Chancen verderben, sonst ist es vorbei mit einer guten Partie und du endest als verarmte alte Jungfer!«
    Einige Tage nahmen Friedrich und ich uns die Mahnungen zu Herzen, aber weil das Loch der Langeweile nach dem aufregenden Paris gar zu schwarz und gähnend war, griffen wir bald unsere Streifzüge durch das nächtliche Berlin wieder auf, das im Geheimen zu entfalten suchte, was in der Pariser Boheme bereits öffentlich tolerierte Praxis war.
    Viele deutsche Künstler hatten sich von der Weltausstellung inspirieren lassen und überall spross die Kleinkunstszene der Literaten, Kabaretts und Tingeltangeltheater, mit denen Berlin sich anschickte, eine vergleichbare Metropole der Künste zu werden.
    Noch war alles in den Anfängen, aber es sind ja oft die Anfänge, die so viel aufregender sind als das vollendete Werk, weil sie noch die ganze Verheißung in sich tragen und die volle Faszination des Möglichen, ja sogar des Unmöglichen verströmen. Ich ließ mich genauso davon einfangen wie Friedrich und wir erlebten einen intellektuellen Aufbruch, der bei uns beiden tiefe Spuren hinterließ.
    »Fühlst du nicht auch, dass wir am Umbruch einer Epoche stehen?«, fragte mich Friedrich nach dem Besuch einer geschlossenen Kabarettaufführung. »Zwar drängt die kaiserliche Zensur die neuen Künste in den Untergrund, doch wird kein Paragraf gegen Sittenverderbnis, Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung verhindern, dass die alte Welt zusammenbricht. Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters der Freiheit, Solidarität und Gleichheit aller Menschen.«
    Ich glaubte ihm nicht, denn ich hatte all das schon oft gehört in meinem vierhundertjährigen Dasein und noch immer herrschten der Adel, die Monarchie und das Militär.
    Der Mensch beutete den Menschen weiter aus, nur dass er sich jetzt dazu der Maschinen bediente. Der Hunger und die Armut wohnten nun nicht mehr überwiegend auf dem Lande, sondern auch in den Mietskasernen, die in den großen Städten wie schimmelige Pilze aus dem Boden schossen, und sie taten noch genauso weh wie zur Zeit der ersten französischen Revolution oder der verzweifelten Weberaufstände im Schlesischen.
    Ich hatte am eigenen Leib erfahren, was aus der Verheißung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geworden war. Doch nicht erst jetzt kam die Idee in die Welt, dass Frauen auch Menschen sind, nicht nur Gebärmaschinen, Objekte männlicher Lust und billige Arbeitskräfte. Dass sie ein Recht auf ein eigenes Leben, Bildung und Beruf haben! Und darum würde sich wohl auch jetzt nichts am alltäglichen Leben der Frauen ändern.
    Friedrich wandte sich verwundert zu mir, denn ich hatte wohl einen Teil meiner Gedanken laut geäußert.
    »Du bist ein erstaunliches Wesen, Estelle, du hast eine so wunderbare intuitive Intelligenz, die manchmal so viel klüger scheint als alle angelernte

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