Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
Schulweisheit.«
Ich lachte und versuchte scherzhaft die Verlegenheit zu überspielen.
»Nein, nein, du musst dich dessen nicht schämen«, sagte Friedrich aber sogleich. »Es ist genau das, was ich bei keiner anderen Frau je finden werde, und darum kann ich nicht ohne dich sein.«
Er küsste mich so spontan und leidenschaftlich, dass ich mich ihm nicht entziehen konnte. Doch als er gar nicht von mir ablassen wollte und plötzlich begann von Paris zu reden, da wusste ich, dass er nichts vergessen hatte von jener unseligen Nacht, als ich so triebhaft seine Schwäche ausgenutzt hatte und wir nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert waren, denn es hätte nicht viel gefehlt, und statt des unbekannten Franzosen wäre Friedrich mein Blutopfer geworden.
Auch war mir, nach dem, was Vanderborg mahnend gesagt hatte, bewusst, dass ich uns beide ins Unglück stürzen würde, wenn ich seinem Drängen nachgab. Obwohl ich nur Estelles Körper benutzte und nicht wirklich FriedrichsSchwester war, so würde es doch niemand verstehen und uns Verfolgung und Gefängnis wegen sittlicher Verfehlung sicher sein.
Ich entzog mich Friedrich daher und trat an das Ufer der Spree. Von ihm abgewandt sagte ich schweren Herzens: »Ich kann dich nicht lieben, Friedrich, nicht so, wie du es möchtest. Die Gesetze verbieten es und die Welt ist noch nicht so frei im Geist, als dass sie eine Liebe zwischen Bruder und Schwester tolerieren könnte. Wir machen nicht nur uns, sondern auch alle, die zu uns gehören, unglücklich und zerstören die Zukunft der ganzen Familie.« Was ich ihm nicht sagte, war die Tatsache, dass mein Körper ein dunkles Geheimnis barg, welches uns eine liebende Vereinigung unmöglich machte. Friedrich trat zu mir und legte seinen Arm um mich. Es war deutlich, dass er mich zwar verstanden, aber nichts begriffen hatte, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Mehr jedoch konnte ich ihm nicht enthüllen, ohne meine wahre Existenz zu verraten.
So wand ich mich aus seinem Arm und fuhr fort, so kalt ich es vermochte: »Auch wenn du mich dafür hassen wirst, Friedrich, ich liebe dich wie eine Schwester, doch nicht mehr. Paris hat uns in einen Rausch versetzt und unsere Gefühle auf eine gefährliche Art verwirrt und darum muss geschieden sein.«
Ich zog den Mantel enger und hob den Rock, um schnell davonlaufen zu können, damit er meine Tränen nicht bemerkte.
Drei Tage ging Friedrich mir aus dem Weg, dann, am Abend des dritten Tages, sah ich ihn aus dem Hause schleichen, und weil mich eine dunkle Ahnung befiel, folgte ich ihm in aller Heimlichkeit.
Er lenkte seine eiligen Schritte geradewegs zur Brücke über der Spree, wo ich ihn kurz aus den Augen verlor. Als ich ihn wieder entdeckte, stand er dort oben, jenseits des Geländers, eine Pistole in der Hand und starrte in die schwarze Flut.
Ich stürzte zu ihm, um ihn am Arm zu greifen und zurückzuhalten von dem, was er so offensichtlich beabsichtigte, aber ich beherrschte mich und trat nur leise an ihn heran, um mit einer Stimme, wie man zu Kranken spricht, den Plan, den er in seinem verwirrten Kopf entwickelt hatte, als jene Dummheit zu entlarven, die er war.
»Friedrich«, sprach ich ruhig, »ich weiß, dass du einen grässlichen Gedanken denkst. Ich habe es gesehen an der Art, wie du deine Schultern in dich hineinziehst, so als wolltest du dich in dir selbst verkriechen wie ein Embryo, zusammengekauert im Mutterleib. Ich würde nicht wagen, dich darauf anzusprechen, wenn ich diesen Gedanken nicht Tausende von Malen selbst gedacht hätte und auch jetzt gerne mit dir teilen würde. Aber ich kann es nicht, denn du und ich sind von ganz unterschiedlicher Art und so ist auch die Liebe, die wir füreinander empfinden.«
Ich trat näher zu ihm und berührte ihn an der Schulter.
»Komm zurück, Friedrich, komm auf die sichere Seite des Geländers, ich bitte dich darum. Hast du nicht gesagt, du willst mein Sklave sein und mir dein Leben weihen? Wenn du es mir wirklich geschenkt hast, gehört es mir und du hast das Recht daran verwirkt. Also verbiete ich dir, es wegzuwerfen in die kalte, nasse Flut der Spree!«
Er drehte sich zu mir herum und sein Gesicht war im Licht der Laterne bleich und schön und so unendlich jung und, Werther gleich, leidend. Nie hatte ich ihn mehr geliebt als in diesem Augenblick.
»Ich bin der deine, Estelle«, sagte er tonlos und legte mir die Waffe in die Hand. »Ich gehöre dir, aber ich ertrage es nicht, ohne deine Liebe zu leben. Erschieß
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