Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
hattekein ähnliches in ihrem Schrank und Vanderborg würde mir wohl kaum einen neuen Mantel kaufen, ohne zu fragen, wo der alte geblieben war.
So griff ich in den nächsten Tagen, an denen die Kälte zunehmend schneidend wurde, auf einen Pelz zurück, der wohl Estelles Mutter gehört hatte und der zwar ein wenig räudig war, aber mich ansonsten vorzüglich kleidete.
Das fand offenbar auch Vanderborg, denn er ließ sich bei meinem Anblick zu einem Ausruf des Entzückens hinreißen: »Wie du doch deiner Mutter gleichst! So voll erblüht. Es ist nun wirklich an der Zeit, dich offiziell in die Gesellschaft einzuführen, damit du dich nach einem Freier umsehen kannst.«
Das passte mir nun freilich wenig, denn ich hätte mich weit lieber im Verborgenen gehalten, weil ich die Nachforschungen dieses Sensationsreporters Radke fürchtete.
Doch da ich schließlich zu der Ansicht kam, dass er nach einer mordenden Schauspielerin fahndete, die schon in den Spelunken von Paris ihr Unwesen getrieben hatte und vielleicht sogar eine Vampirin war, so fühlte ich mich relativ sicher. Denn die Gesuchte würde er wohl kaum auf einem Ball der Berliner Gesellschaft vermuten, wo unschuldige Mädchen aus gutem Hause potenziellen Ehemännern zur »Beschau« vorgestellt wurden.
Dennoch würde ich in Zukunft planvoller und vorsichtiger meinen Blutdurst befriedigen müssen, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, von diesem schrecklichen Menschen doch noch ertappt zu werden.
Natürlich beschäftigte mich in diesem Zusammenhang auch die moralische Seite meines Tuns, und ich spürte immer häufiger Estelles Gewissen in mir, das mich darüber nachgrübeln ließ, ob ich nicht auf Dauer mein Dasein auchohne menschliche Blutmahlzeiten fristen könnte. Es war mir nämlich keineswegs angenehm, zu töten, schon gar nicht einen jungen unschuldigen Menschen.
Ja, ich empfand es als Fluch meiner vampirischen Natur und spürte, nicht zuletzt durch die Liebe zu Friedrich, den ich in große Gefahr gebracht hatte, Skrupel und moralische Bedenken, die mir bisher fremd gewesen waren. Jedenfalls hatte ich sie nicht in diesem erheblichen Maße gehabt, wie sie mich jetzt zwangen, mein triebhaftes Handeln schon selbst als verwerflich zu betrachten.
Ich erinnerte mich zurück an Zeiten, wo ich in der Einsamkeit der polnischen Wälder mit den Wölfen geheult und außer Auerhühnern und Kaninchen kein Lebewesen gefunden hatte, das mir zur Nahrung hätte dienen können, und dennoch wäre ich damals lieber verhungert und verdorrt, als mich an diesen zu vergreifen. Nicht aus Gründen der Moral, sondern allein aus Ekel.
Erst als eine Jagdgesellschaft mit dem Neffen des Ladislav von Przytulek in den Wald einf iel, konnte ich Rache- und Blutdurst gleichermaßen stillen, indem ich ihn aus einem Baum heraus mit einem Seil vom Pferd riss und er sich an einem Ast erhängte. Die Zunge hing ihm aus dem Schlund, und weil ihm auch die Augen aus dem Kopfe quollen, wurde mir recht übel bei der Blutmahlzeit, die zwar noch warm, aber nicht mehr die frischeste war. Dennoch gestärkt floh ich gen Böhmen, von wo es mich nach Magdeburg verschlug.
Der Wert des Menschen war gering zu jener Zeit und gestorben wurde überall. Wer heute überlebte, den erwischte es halt morgen. Und gegen das, was Kriege, Kirche, Seuchen und Fürsten den Menschen antaten, war ein Biss vonmir ein geradezu glücklicher Tod. So hatte es mir selten Skrupel bereitet, mich mit Menschenblut jung und vital zu erhalten, vielmehr war es normaler triebhafter Bestandteil meines Daseins als Vampirin.
Aber im Laufe der Geschichte hatte sich das Bild vom Menschen gewandelt, auch in meiner Sicht, und spätestens nach der Zeit bei Marat, in der ich lernte, dass alle Menschen Brüder sind, die in Freiheit und Gleichheit miteinander leben sollen, kamen mir hin und wieder Bedenken hinsichtlich meines Tuns.
Es war jedoch erst die Verschmelzung mit Estelle, die mir in der Klarheit ihres sittlichen Denkens und moralischen Empfindens bewusst machte, dass ich wie ein Parasit auf Kosten von Menschen lebte, die, genau wie ich, ein Recht auf ihr Dasein hatten.
Ich begann mich zunehmend meiner Taten zu schämen, da sie nicht einmal mehr durch das Motiv der Rache begründet waren, sondern alleine dem Egoismus entsprangen, meine Jugend und Kraft zu erhalten. Und weil mich das ernsthaft bedrückte, war es nur konsequent, meinen tief verwurzelten Ekel zu überwinden und es einmal mit einem Tier zu versuchen. Einer streunenden Katze
Weitere Kostenlose Bücher