Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
oder einem herrenlosen Hund. Das würde niemanden kümmern, wenn so ein Vieh tot in der Havel triebe. Es wäre den Versuch wert, denn obwohl ich verstandesmäßig die Situation zu bewältigen glaubte, wühlte in meinen Eingeweiden die beständige Angst vor der Entdeckung. Und solange ich mordend durch Berlin ziehen musste, um mein vitales Bedürfnis nach Blut zu befriedigen, wäre sie zweifellos mein steter aufdringlicher Begleiter.
Zudem hatte meine Angst ja auch einen sehr realistischen Hintergrund und einen ganz realen Namen: LudolfRadke! Denn dieser Sensationsreporter drückte weiterhin seine Schnüffelnase penetrant auf meine Fährte.
A ls ich wie verabredet beim nächsten Ball in Friedrichs Armen tanzte, war mir das Vergnügen vergällt und ich sah in meiner Einbildung hinter jeder Säule des Saales einen Mann mit wildem Backenbart und Stummelpfeife stehen, der mich mit Argusaugen beobachtete.
»Bring mich nach Hause, Friedrich«, bat ich daher bald zum Leidwesen von Vanderborg und Hansmann, die sich von diesem Ball ganz offensichtlich mehr versprochen hatten.
Nachdem alles ruhig war im Haus, schlich ich mich hinaus mit dem festen Willen, ein Tier, ob Katze oder Hund, zu fangen und wenigstens einmal Geschmack und Wirkung seines Blutes auszuprobieren.
Ich fand mich selber reichlich merkwürdig dabei, aber hieß es nicht: In der Not frisst der Teufel Fliegen? Nun waren Fliegen allerdings sehr klein und reichlich blutarm, sodass ich dachte, meine tierische Beute dürfte getrost ein wenig größer sein. Ich zog also hinunter an den Fluss, wo sich des Nachts allerlei Viehzeug, von der Ratte bis zum Straßenköter, tummelte, und war tatsächlich voller Hoffnung, meinen vampirischen Trieb mit Estelles moralischen Skrupeln versöhnen zu können.
Allein ich stellte fest, dass die Jagd auf Menschen sehr viel einfacher und befriedigender war.
Ich brauchte Stunden, bis ich endlich eine Katze angelockt hatte, und als ich sie bewegt hatte, zu mir auf die Bank zu springen, war meine Geduld aufgebraucht. So stürzte ich mich viel zu schnell, zu unkontrolliert und gierig aufdas Tier, das voller Entsetzen buckelte und fauchte und mir mit wilden Schlägen die Krallen links und rechts auf meine Wangen hieb. Ich ließ die Bestie fahren und schlich mich deprimiert zurück ins Haus. Dort wusch ich mir mein Blut aus dem Gesicht und betupfte die Kratzer mit Alaun. Doch noch während ich im Spiegel meine Blessuren betrachtete, begannen sie zu verheilen. Morgen würde mir niemand mehr das nächtliche Abenteuer ansehen.
Auf meinem Bett im Dunkeln liegend fragte ich mich, ob ich verrückt geworden war. Selbst wenn ein Hund möglicherweise einfacher gewesen wäre, das konnte doch des Pudels Kern nicht sein! Mochte der Teufel weiter Fliegen fressen, so groß war meine Not – trotz Ludolf Radke – nicht, dass ich mich an räudigem Viehzeug delektieren musste. Auch ein Vampir hat schließlich eine Ehre!
E s war im Winter des Jahres 1902, als ich Karolus Utz zum ersten Mal begegnete. Es hatte geschneit und Väterchen Frost hielt von Russland her mit eiskalter Faust Berlin fest im Griff.
Vanderborg sorgte sich ob der hohen Kosten für Heizmaterial, dessen Preis abrupt in die Höhe geschnellt war, und als zum dritten Mal eine Lieferung von Koks fällig wurde, ermahnte er mich und das Gesinde zu sparsamerem Umgang damit.
Dem jedoch waren Grenzen gesetzt. Die großen herrschaftlichen Räume mit ihren hohen Kachelöfen ließen sich nur durch ständiges Nachlegen warm halten. Es blieb uns nichts anderes übrig, als bestimmte Räume ganz von der Befeuerung auszuschließen. Mein Schlafgemach glich ohnehin schon einem Kühlhaus, und nun versanken auchFlure und Nebengelasse im Kälteschlaf und niemand hielt sich dort länger als unbedingt nötig auf.
Mir selber machte die Kälte recht wenig aus, denn ich benötigte nur einen Bruchteil der Wärme, um meine Körperfunktionen aufrechtzuerhalten, die ein Mensch brauchte. Hätte ich mich in mein Schlafzimmer zurückgezogen und mich dort auf das Bett gelegt, so hätte ich meine Lebensenergie so weit reduzieren können, dass ich in einem todesähnlichen Schlaf wie ein Braunbär aus den Karpaten hätte überwintern können. Das ging freilich nicht, ohne Misstrauen in der Familie zu wecken, und so trug ich zum Scheine das Los der Familie mit und fröstelte hin und wieder demonstrativ und Mitleid heischend.
Es war also an einem dieser eisig kalten Tage im Januar des Jahres 1902, als Karolus Utz
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